Der Reiher

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Der graue Reiher stakst durch das hohe Gras neben der überwachsenen Ruine der Bahnstation. Bei jedem Schritt zieht er ein dünnes Bein hoch, bewegt es nach vorne und setzt es bedächtig wieder ab, als ob er befürchtet, auf etwas Unappetitliches zu treten.

Leonie ist hinter einer Gruppe von Büschen versteckt. Der Vogel hat sie nicht gesehen. Leise legt sie einen Pfeil in ihren Bogen und spannt ihn. Sie zielt.

„Leonie!" Die Stimme ist laut und kommt ganz aus ihrer Nähe. Der Reiher erstarrt für eine Sekunde, dann breitet er seine Flügel aus und schwingt sich mit einem verärgerten Krächzen in die Luft.

Leonie entspannt den Bogen und blickt dem eleganten Tier nach, das in Richtung der Ruinen einer nahen Stadt davonfliegt. Sie fühlt sich irgendwie erleichtert. Hat sie wirklich ernsthaft erwogen, etwas so Schönes zu töten?

Der Vogel landet auf einem halb zerfallenen Hochhaus, das wie ein abgebrochener Finger aus dem Dach des dichten Waldes ragt.

Zum Abendessen wird es wohl keinen Reiher geben. Hoffentlich haben die anderen etwas gefunden. Sie hungern schon viel zu lange.

Das Geräusch von Schritten unterbricht ihre Gedanken.

„Leonie!" Es ist Silvan, und in seiner Stimme liegt etwas Drängendes, das Leonies Aufmerksamkeit weckt. „Die Wölfe sind unten am See und ich glaube, sie sind auf dem Weg hierher. Wir sollten verschwinden."

Leonie nickt und erhebt sich. „Wir müssen die anderen warnen."


In dieser Welt sind sie Jäger und Gejagte. Leonie fragt sich, wie lange sie überleben werden.

Das ist ihre Geschichte. Sie begann an einem regnerischen Morgen vor vielen, vielen Tagen.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now