Die Wiki, und Amazimu

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Anna scheint Jan, den Präsidenten der Bunkerleute, nicht zu mögen. Das macht sie in den Augen von Leonie schon etwas sympathischer.

"Wieso ist er ein Arschloch? Dieser Jan, meine ich. Euer erhabener Präsident."

Anna schweigt. Sie kneift die Lippen zusammen. Leonie vermag ihren emotionsgeladenen Blick nicht zu lesen.

"Hör zu", schiebt Leonie nach. "Du musst nicht antworten."

Annas Blick ist auf den Boden gerichtet.

„Weisst du... das vorhin, mit dem Messer... das tut mir leid. Ich hätte dir nicht drohen sollen. Ich werde dich nicht gehen lassen, aber ich zwinge dich nicht zu reden."

Anna blickt auf. Der Anflug eines Lächelns huscht über ihr Gesicht. "Schon gut", sagt sie. Ich versteh dich ja. Ich glaube... ich würde auch kämpfen, um meine Freunde, oder um meinen Bruder."

Sie mustert Leonie aufmerksam aus braunen Augen. "Ich glaube nicht, dass du... das bist, was Jan von deinen Freunden gesagt hat."

"Was hat er denn gesagt? Was sind wir denn?"

"Als er deine Freunde einsperrte, hat er uns gesagt, dass sie Feinde seien. Dass sie Afrikaner seien."

"Afrikaner?" Leonie muss lachen und fühlt sich wie im falschen Film. "Wieso sollen sie Afrikaner sein? Weist du überhaupt, was Afrikaner sind?"

"Die Afrikaner... sie haben all dies zerstört." Anna weist auf die Mauern der Ruine, welche sie umgeben.

"Aus Afrika komme ich nicht", antwortet Leonie kopfschüttelnd. "Und zerstört habe ich hier gar nichts. Jedenfalls nicht viel. Ich weiss nicht mal, was hier passiert ist. Und diejenigen, die dabei waren, als das zerstört wurde, die sind wohl schon seit Jahrhunderten tot."

Anna nickt, ihren Blick durch ein leeres Fenster nach draussen gerichtet. "Ja. Die sind schon lange tot."

Leonies Herz klopft, die Aussicht auf Antworten macht es ihr schwierig sitzen zu bleiben. "Weisst du denn, was damals passiert ist? Wieso starben all die Menschen hier? Wieso hat die Zivilisation aufgehört zu existieren?"

"Amazimu." In Annas Ton schwingt Verwunderung mit, irgendwo zwischen einer Frage und einem Vorwurf, als wäre das etwas, das Leonie wissen müsste.

„Ama... was?"

„Amazimu", wiederholt Anna. „Hast du noch nie etwas von Amazimu gehört?"

"Nein, was ist das?"

Leonie fühlt sich wie ein kleines, unwissenden Kind und fragt sich, ob Anna das auch so sieht. 

Doch Anna schliesst die Augen, offenbar nach Worten suchend. Dann beginnt sie zu sprechen. "Die Völker der Erde waren viele. Und sie waren stark, zornig und zerstritten." 

Ihr Ton erinnert Leonie an den Pfarrer in der Kirche, in welche ihre Mutter sie früher manchmal hinschleppte, vor allem nach dem Tod des Vaters. 

Anna holt Luft und fährt fort. "Um ihrem Zorn eine Stimme zu geben, schufen die Völker immer mächtigere Waffen. Die letzte dieser Waffen hiess Amazimu, geschaffen in Afrika als Drohung, unter deren Bann der Friede herrschen sollte. Doch der Friede kam nicht. Die Völker des Nordens taten sich zusammen um Afrika zu unterjochen, wie in den früheren Jahrhunderten. Und in ihrer Bedrängnis setzten die Afrikaner Amazimu frei. Und Amazimu beendete allen Streit. Und sie beendete nicht nur den Streit, sondern auch dessen Ursache. Sie reinigte die Erde von den Menschen. Nur die Auserwählten überlebten in den Gängen des ewigen und heiligen Reduits."

Erst jetzt öffnet Anna ihre Augen wieder und richtet sie auf Leonie.

"Ehm..." Leonie hat das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Vielleicht wäre ein Amen angebracht. Aber sie entscheidet sich dagegen. "Was... war denn das? Ich meine dieser Text, den du da zitiert hast."

"Zitiert?" Anna schaut sie verwirrt an.

"Ich meine, das was du gesagt hast, das ist doch nicht von dir, oder? Woher ist es?"

"Das ist aus der heiligen Wiki." Anna blickt Leonie verwirrt an. "Kennst du die Wiki nicht?"

"Ich... habe davon gehört." Leonie verkneift sich ein Lachen. Sie zweifelt daran, dass die Wikipedia, die sie von früher kennt, viel mit dem zu tun hat, was Anna als Wiki bezeichnet, aber die Namengleichheit tönt nicht zufällig. Offenbar beten diese Leute Wikipedia an... Nun ja, das würde passen.

"Du bist seltsam." Annas Blick huscht über Leonies Gesicht und ihren Körper.

Ihr seid seltsam. Aber... vielleicht hast du ja Recht. Ich bin diejenige, die nicht hierher gehört.

Sie entscheidet sich für ein anderes, hoffentlich etwas einfacheres Gesprächsthema. "Diese Auserwählten, von der die Wiki da redet", fragt sie, "die im... ewigen und heiligen..."

"Reduit?"

"Ja, die im ewigen und heiligen Reduit. Seid ihr das? Seid ihr die Auserwählten?"

Anna nickt langsam, ihr Gesicht jetzt ernst.

"Und... wozu seid ihr auserwählt?" fragt Leonie und versucht, dabei nicht spöttisch zu tönen.

"Wir sollen die Erde wieder besiedeln, wenn Amazimu fort ist."

"Und ist Amazimu fort? Und wer oder was ist Amazimu überhaupt? Ein Mensch? Eine Waffe? Eine Krankheit?"

Anna zuckt mit dem Schultern. "Ich weiss nicht genau, was Amazimu ist. Die Wiki sagt nichts dazu. Aber wir glauben, dass Amazimu weg ist. Die Leute im Dorf leben schon seit einer Generation draussen, und es ist ihnen nichts geschehen."

"Und wieso wohnt ihr denn noch in euren Tunneln? Ihr sollt doch die Erde neu besiedeln."

Anna verzieht den Mund. "Jan hat das so beschlossen. Wir bleiben noch im Reduit. Zur Sicherheit, sagt er."

Leonie fällt ein, was Anna vorhin über Jan gesagt hat. "Hältst du ihn deshalb für ein Arschloch?"

Anna schweigt einen Moment lang. "Ja, auch deshalb", sagt sie dann, schulterzuckend.

"Wieso denn noch?" hakt Leonie nach.

Anna schweigt und blickt zu Boden.

Leonie beschliesst, das Thema ruhen zu lassen. "Hey, hör zu. Ich muss mal, und ausserdem möchte ich mich waschen. Und wir brauchen Wasser. Ich kann dich aber hier nicht so zurücklassen. Du musst mitkommen, sorry."

"Was ist sorry?" Anna blickt sie verständnislos an.

"Das Gleiche wie 'Entschuldigung'."

"Du redest komisch", meint Anna.

"Gleichfalls."

Leonie führt Anna nach draussen, zu einem Nebenarm des Flusses.

Nach dem Waschen schaut Leonie im Abendlicht auf ihr Spiegelbild im Wasser. 

Piratengesicht. Was denkt Anna wohl von mir?

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt