Vater und Tochter

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Die Granate schlägt mit einem metallischen Klang auf dem Boden auf.

Jan lässt sein Gewehr fallen, hechtet von ihr weg und dreht sich in der Luft. Er landet auf einem Fuss, stolpert und fällt.

Leonie starrt die Granate an und zählt in Gedanken. Drei. Vier. Fünf. Sechs...

Bei zehn hört sie auf. Ihre Augen bewegen sich zu Jan. Er liegt auf der Seite und hat seinen Kopf angehoben. Er blickt sie an, sein Mund ist offen.

Leonie macht einen Schritt über die immer noch stille Granate. Sie nimmt Jans Gewehr auf. Es ist überraschend schwer. Sie legt an und zielt auf Jan. Auf sein Gesicht.

Sein Blick ist immer noch auf sie gerichtet, wortlos, als wäre er unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen.

Leone fühlt nichts, denkt nichts.

Sie betätigt den Auslöser.

Der Schuss ist unglaublich laut und der Rückstoss wirft sie fast um.


Leonie riecht das Schiesspulver. Ihre Hände surren vom Schlag der Waffe.

Ein Geräusch. Robert tritt aus einem Gebäude in der Nähe. Er hält seine Hände auf Brusthöhe, die Handflächen zu Leonie, als wenn er die Kugel damit abwehren wollte, falls Leonie auf ihn schiesst. Er geht ein paar Schritte bergaufwärts, die Gasse hoch, stolpert. Dann beginnt er zu rennen.

Leonies Blick folgt ihm, bis er zwischen den Bäumen und den Ruinen verschwunden ist.

Ihre Aufmerksam kehrt zu Jans Körper zurück. Sie tritt näher heran und betrachtet den hässlichen Anblick, der vor kurzem noch ein Kopf war. Rotes Blut ist überall. Es fesselt ihre Augen und hält sie fest. Sie ist nicht in der Lage, irgendwo anders hinzublicken oder irgendeinen Gedanken zu fassen.

Das Kreischen eines Vogels zerreisst das Rot.

Eine Welle von Übelkeit überkommt sie. Sie beugt sich vornüber und erbricht. Gelblicher Mageninhalt fällt in eine rote Lache.


Dann steht sie still und kämpft mit dem Würgen in ihrem Hals, bis der Gestank des Blutes und der Kotze sie dazu zwingt, ihren Kopf abzuwenden. Ihre Augen fallen auf die Granate, welche immer noch in den Trümmern in der Nähe liegt und sich weigert zu explodieren. Sie hasst das Ding für das, was es getan hat, dafür, dass es nicht explodiert ist. Dafür, dass es ein Blindgänger ist, oder was auch immer. Dafür, dass es sie dazu gebracht hat, das zu tun. Den Abzug zu ziehen.

Sie wischt sich den Mund am Ärmel ab. Dann dreht sie der Granate ihren Rücken zu und beginnt bergauf zu gehen, dem Weg folgend, den Robert genommen hat. Sie setzt einen Fuss vor den anderen, jeder Schritt eine unglaubliche Anstrengung. Jan lässt sie zurück, aber die Farbe seines Blutes begleitet sie, wie das Nachleuchten eines hässlichen Blitzlichts.


Sie hat einen Menschen getötet.

Die Strasse vor ihr ist überwachsen, kaum erkennbar, aber sie weiss, dass sie zum Dorf führt, und von dort zum Bunker. Sie kommt an einem Hydranten vorbei, der wie ein Gartenzwerg am Strassenrand steht. Reste roter Farbe haften an seiner Oberfläche.

Jans Blut war im Licht der Sonne so rot.

Sie überquert einen Graben, der den Weg kreuzt.

Sie erinnert sich an das Reh, das sie im letzten Winter getötet hat. Auch sein Blut war rot.

Die Strasse macht hier einige Spitzkehren. Sie umgeht sie und nimmt einen Pfad, der sie direkt den Hang hoch führt, zum Plateau, auf dem sich das Dorf und seine Felder befinden.

Das Reh zu töten hat sich anders angefühlt. Es war traurig, aber sie hatten das Fleisch gebraucht. Sie waren nahe am Verhungern.

Als der Pfad das Plateau erreicht, kommt das Dorf in Sicht. Sie zögert am Waldrand, aus reiner Gewohnheit. Dann geht sie weiter und betritt die Lichtung. Wieso sollte es sie stören, wenn jemand sie sieht?

Es gab keine Notwendigkeit, Jan zu töten. Sie hätte ihn gefangen nehmen können, nicht?

Einige der Dorfleute arbeiten auf einem Feld in der Nähe. Als sie Leonie sehen, halten sie inne und starren sie an. Sie ignoriert die Leute und geht weiter.

Das Gewehr in ihren Händen fühlt sich immer schwerer an.

Der Pfad geht nahe am Dorf vorbei. Sie sieht den Langhaarigen, den Anführer des Dorfs. An seinen Namen kann sie sich nicht erinnern. Sie nickt ihm zu. Er bleibt unbeweglich stehen, sein Mund steht offen.

Sie lässt das Dorf hinter sich und beschleunigt ihre Schritte.


Einige Minuten später erblickt sie die anderen. Adam, der Grosse, scheint Leonie zu hören. Er blickt zu ihr zurück und ruft dann etwas nach vorne. Alle halten an und drehen sich um.

Sie nähert sich ihnen. Emma zieht ihre Pistole, während Rosie und Klaus sich aus der Gruppe lösen und auf Leonie zurennen.

„Leonie!" ruft Rosie mit einem breiten Grinsen. Leonie legt kurz ihren linken Arm um sie. Dann lässt sie los und drückt das Gewehr in Klaus Hände.

„Warte hier", sagt sie und wendet sich Emma zu, welche immer noch dasteht, die Pistole halb angehoben. Robert steht neben ihr. Seine Augen wandern unruhig zwischen Emma und Leonie hin und her.

Leonie geht ein paar Schritte auf Emma zu, dann hält sie an.

Alles ist still.

„Ich habe Jan getötet", sagt Leonie. „Ich habe deinen Vater getötet." Eigentlich sollte sie sich entschuldigen. Aber die Worte kommen nicht über ihre Lippen. Sie fühlt eine Träne auf ihrer Wange und fragt sich wieso.

Emma studiert Leonie, dann blickt sie auf die Waffe, welche sie hält. „Ja, ich weiss", sagt sie und zögert.

Leonie hört Schritte hinter sich. Rosie erscheint zu ihrer Rechten und hält sich an Leonies Arm.

In der Gruppe vor ihr entsteht Bewegung. Anna berührt kurz die Schulter ihres Bruders, dann löst sie sich von ihm und geht zu Leonie. Sie stellt sich neben sie und hängt sich an ihrem linken Arm ein, ein Spiegelbild von Rosie. Dann blickt sie Emma an.

Leonie spürt die Nähe ihrer beiden Freundinnen neben sich und eine unbeschreibliche Wärme durchströmt sie.

Emma drückt ihre Lippen zusammen und schliesst einen Moment lang ihre Augen. Sie nickt. „Er hat versucht, dich zu töten", sagt sie. Dann steckt sie ihre Pistole ein.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now