Eine Armbrust und zuviele Fragen

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Die Armbrust wiegt schwer in Leonies Händen. Es ist ihr fast unmöglich, sie still zu halten. Mit einem Seufzer geht sie einige Schritte nach rechts, zu einer verwitterten, etwa brusthohen Mauer. Dort stützt sie die Waffe ab und legt nochmals an. Sie richtet den Bolzen wieder auf das Ziel aus, ein Brett, etwa zehn Meter entfernt von ihr. Sie hält den Atem an und zieht den Auslöser.

Das erste, was sie bemerkt, ist der Rückstoss. Er ist erstaunlich stark.

„Wow!", sagt Klaus. Er hat Leonies Versuche mitverfolgt und eilt zum Ziel. Leonie tritt hinzu. Der Bolzen hat das Holz gespalten und steckt im Stamm des Baumes dahinter. Stöhnend zieht er ihn raus.

Sowohl die Armbrust als auch der Bolzen sind alte Technologie. Sie haben sie im Frühling gefunden, im versiegelten Kellerraum in der Stadt. Die Sehne der Armbrust war zerrissen. Klaus hat sie durch einen Stahldraht ersetzt. Der reisst zwar auch, normalerweise nach wenigen Schüssen, und er muss regelmässig ersetzt werden. Aber sie haben eine ganze Spule davon.

„Sie ist stark", sagt Leonie, „und genau. Danke, Klaus."

Klaus macht ein zufriedenes Gesicht und nickt. „Ja, aber sie ist schwer. Und sie braucht viel Kraft zum Laden."

Ja, das Laden ist schwierig, stimmt ihm Leonie zu. Sie muss ihren Fuss durch eine Art Schlaufe am vorderen Ende des Geräts stecken und dann die Sehne nach hinten ziehen, um sie in eine Kerbe im Auslösemechanismus einzuführen. Und um zu verhindern, dass der Draht ihre Finger zerschneidet, muss sie sich mit einem Stück Stoff schützen.

Aber sie liebt die Stärke und Genauigkeit der Waffe. „Ich will sie unbedingt mitnehmen", sagt sie.

„Sie ist wirklich schwer", wiederholt Klaus, „und ihr müsst viel anderes mitschleppen. Bist du sicher?"

„Ja." Leonie nickt. „Anna kann mir tragen helfen."

Ihr Waffenarsenal umfasst derzeit drei Speere, einige Messer, zwei Bögen und einen beeindruckenden Vorrat an Pfeilen. Und nebst den Waffen werden sie noch anderes tragen müssen. Sie brauchen Vorräte, Kleidung, Decken und weitere Ausrüstung.

„Wir werden es schaffen." Irgendwie, fügt sie in Gedanken hinzu.

„Hey!" ruft Rosie vom Haus. „Mittagessen."

Sie suchen ihre Sachen zusammen und gehen zurück.


Rosie und Anna haben den Tisch im Garten gedeckt.

„Anna", sagt Leonie, während sie Gemüsebrühe löffelt und Anna aus den Augenwinkeln beobachtet. „Was würde passieren, wenn wir Jan... entfernen? Wer würde die Führung übernehmen?"

Annas Blick wandert auf den See und ihr Gesicht wird ausdruckslos. „Emma", sagt sie ohne dass ihre Stimme verrät, was sie fühlt. „Ich glaube, sie würde die Führung übernehmen."

Emma, das passt, denkt sich Leonie. Die Dunkelhaarige mit der Pistole, sie ist die Einzige, die Leonie jemals eine Waffe hat tragen sehen, nebst Jan.

„Was würde sie tun?", fragt Leonie.

Anna zuckt mit den Schultern. „Sie... es ist schwer zu sagen. Jan ist ihr Vater."

Leonie ist erstaunt, wahrscheinlich weil Jan blond ist, im Gegensatz zu Emma. Das kompliziert die Sache. Sie blickt auf die Armbrust, die gegen die Wand gelehnt ist. Falls sie Jan ... entfernen, wäre Emma wohl kaum sehr kooperativ.

„Steht sie ihm nahe?", fragt Leonie und wundert sich gleichzeitig, wie sie überhaupt solche Pläne in Betracht ziehen kann.

Anna hebt nochmals die Schultern. „Schwer zu sagen. Sie redet nicht viel – weder über sich, noch über Jan."

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now