Die Glut und Kälte des Zorns

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Anna, Rosie, Klaus und Leonie sitzen, an eine Mauer gelehnt, in einer Reihe auf dem harten, steinigen Boden. Die Bunkerleute haben sich in einen Halbkreis sie positioniert und halten ihre Waffen bereit. Die meisten sitzen ebenfalls. Die einzige, die steht, ist Emma, welche immer wieder die Gasse Richtung Bunker hochschaut und offenbar auf Jan wartet.

„Karl", sagt Anna und unterbricht damit die schwere Stille, die über allen hängt. Sie schaut ihren gelockten Bruder mit tränenfeuchten Augen an. Er hat seine Lippen zu einem Strich zusammengedrückt und sein Blick geht überall hin, nur nicht zu Anna. Er hält einen Dolch, den Griff nahe an seinem Körper.

„Bitte", sagt Anna, ein Flehen, das Leonie tief berührt. „Sag etwas."

Endlich dreht er ihr sein Gesicht zu. „Wieso bist du mit denen?" Mit dem letzten, wütend dahin geworfenen Wort richtet er seinen Blick und die Spitze seines Dolchs auf Leonie, als wenn sie die Quelle dieses Übels wäre.

Leonie ist versucht, auf den Boden vor ihr zu spucken, um sein Bild von ihr zu bestätigen, aber sie blickt ihn nur an und zieht die Augenbrauen einige Millimeter nach oben.

„Sie sind gute Leute", antwortet Anna. „Sie haben für mich gesorgt. Und sie wollen helfen."

„Wir brauchen keine Hilfe", entgegnet er mit etwas sanfterer Stimme.

„Doch, die braucht ihr", sagt Anna. „Wir brauchen die Hilfe. Wir können nicht ewig im Reduit leben. Die Welt hier draussen ist wunderbar. Und sie gibt uns Leben. Das Reduit ist keine Zukunft. Es ist eine Sackgasse."

Leonie braucht einem Moment, um sich zu erinnern, dass das Reduit ihre Bezeichnung für den Bunker ist.

„Und..." Anna sagt dieses einzelne Wort mit ernster Stimme, und Leonie blickt sie überrascht an. Anna öffnet ihren Mund, schliesst ihn wieder, nur um ihn wieder zu öffnen. „Was Jan den Dorfleuten antut, das ist ... ein Verbrechen. Es muss aufhören."

Niemand antwortet. Einer der Bunkerleute zieht geräuschvoll Luft ein. Es ist der Mann mit dem Schnauz, Emmas geheimer Freund. Er sitzt neben ihr. Emma blickt Anna mit aufgerissenen Augen an.

Robert, der Arzt, ist der erste, der Worte findet. „Warte nur, bis Jan das hört". Er grinst in offensichtlicher Vorfreude.

„Ihr wisst es doch alle", sagt Anna und steht auf. „Was Jan tut, das ist falsch. Er betrügt die Dorfleute um ihr Leben. Und uns auch."

„Genug!", ruft Robert und erhebt sich ebenfalls. Er nähert sich Anna und hält seinen Speer wie einen Stock.

„Robert! Stopp!" Emmas Stimme ist schrill. „Setzt euch, beide! Und haltet die Klappe. Alle!" Sie richtet ihre Pistole zunächst auf Robert, dann auf Leonie und ihre Freunde.

Robert und Anna setzen sich wieder, schweigend.

Und alle warten auf Jan, in wortloser Stille.


Jan erreicht sie etwa Mitte Nachmittag. Er tritt an die Wartenden heran und bleibt stehen, seine Füsse auseinander, beide Hände am Gewehr. Alle scheinen darauf zu warten, dass er das Wort ergreift.

Sein Blick schweift über Leonie und ihre Gruppe und ein Lächeln erscheint in seinem Gesicht. „Oh!", sagt er, „was für interessante Besucher. Willkommen!"

Er kommt näher und bleibt unmittelbar vor Leonie stehen. „Leonie! Schön dich zu sehen. Es freut mich, dass du wieder bei uns bist." Seine Stimme trieft von falscher Freundlichkeit.

Sie starrt zu ihm hoch und studiert das Haar, das aus seinen Nasenlöchern wächst. Sie bleibt sitzen.

Er bewegt sich weiter zu Anna. „Steh auf!", sagt er schroff.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now