Lauge, und eine seit langem überfällige Reinigung

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Leonie hört ein Klopfen. Bevor sie antworten kann, öffnet sich die Türe mit einem Quietschen in ihren alten Angeln. Rosie tritt ein, in ihren Händen eine Schüssel. "Wie geht's?" Sie lächelt.

"Besser." Beim Reden fühlt sich die rechte Seite ihres Gesichts seltsam steif an und kribbelt.

"Ich habe dir etwas zum Essen mitgebracht", sagt Rosie und setzt sich neben Leonies Bett, ein Lager aus Stroh. Sie taucht einen Löffel in die Schüssel und hält ihn Leonie vor den Mund. "Hamm..."

Wider Willen muss Leonie lachen. "Lass die Witze!" Sie versucht sich aufzusetzen und ist überrascht, dass es geht, ohne dass der Schmerz ihr den Kopf zerreisst. Sie nimmt Rosie den Löffel aus der Hand und beginnt zu essen. Sie merkt, wie hungrig sie ist. Das Essen schmeckt köstlich.

"Wie sieht es hier aus? Ich meine draussen."

"Oh, es ist ziemlich gut hier. Es gibt Apfelbäume und reife Trauben... auch Birnen, die sind aber schon fast vorbei. Gestern hat Silvan Kiwis von seinem Streifzug zurückgebracht. Hasen gibt's auch, und Fisch. Und nicht weit von hier habe ich Karotten und Kartoffeln gefunden." Rosie weist auf die Schüssel vor ihr.

Leonie blickt in das Essen. Tatsächlich schwimmen in der Suppe, die sie isst, auch geschnittene Karotten und Kartoffeln. Früher, in ihrem Leben damals, hat sie gekochte Karotten gehasst und Kartoffeln bestenfalls toleriert. Jetzt aber, Jahrhunderte später und hier in dieser Suppe, sind sie das Beste, das sie seit langem gegessen hat.

Wortlos löffelt sie die ganze Schüssel aus. Danach bemerkt sie, dass sie genug hat vom Rumliegen. "Hilf mir auf, bitte."

Rosie lächelt und hilft Leonie dabei, sich aufzurichten. Leonie fühlt sich unsicher auf den Beinen, doch mit Rosies Hilfe gelingt es ihr, die Türe zu erreichen. Dahinter befindet sich ein grosser Raum mit einer Feuerstelle, bei welcher sich Klaus an einem grossen Kessel zu schaffen macht. Es stinkt entsetzlich.

"Ist dein Zaubertrank endlich fertig, Merlin?" fragt ihn Rosie sarkastisch. "Er riecht wie etwas, das schon viel zu lange tot ist."

"Das ist kein Zaubertrank, Prinzessin", antwortet Klaus, ohne sich vom Kessel abzuwenden. "Das ist Lauge, damit eure Hoheit sich ihren durchlauchtigsten Körper und ihre Gewänder waschen kann. Beide haben es nötig."

Leonie lacht. Klaus dreht sich um. "Hey Leonie, du bist ja aufgestanden! Wie geht's?"

"Fühle mich wie 80." Und das ist eher eine Untertreibung, fügt sie in Gedanken hinzu.

Klaus kommt auf sie zu, bleibt stehen und verzieht sein Gesicht. "Noch ein Abnehmer für meine Lauge", sagt er grinsend. Er dreht sich um und holt einen Metallbehälter, der neben der Feuerstelle steht. "Meine erste Charge." Er hält Leonie den Behälter unter die Nase. Eine weissliche Flüssigkeit stinkt ihr entgegen. "Probiert sie aus."

Waschen wäre eine gute Idee, denkt sich Leonie. Sie blickt Rosie an. "Wo ist das Badezimmer?" 

"Das ist derzeit draussen, da hat es einen Bach." Rosie wirft einen Blick auf Klaus. "Unser Merlin hier hat es nach nicht geschafft, die Wasserversorgung in unserem Palast wieder herzustellen. Komm."

Rosie führt Leonie zur Türe, während sich Klaus wieder der Feuerstelle zuwendet. Neben der Türe hängt ein Tuch an einem Haken. Rosie nimmt es mit.

Vor dem Haus liegt ein Garten, wild und überwuchert. Die Sonne scheint und es ist angenehm warm, aber die Bäume sind gelb geworden, und es liegt Laub auf dem Boden. Seit der Sache mit dem Bären hat der Herbst nun offenbar endgültig Einzug gehalten.

Gemeinsam mit Rosie steigen sie zum Bach neben dem Garten hinunter. Leonie beühlt ihr Gesicht. Zwei Kratzer ziehen sich über ihre Wange.

Vorsichtig berührt sie ihre rechte Wange. Auch hier verläuft ein Kratzer.

Leonie denkt an den Bären. Mistvieh!

Das Wasser des Bachs ist furchtbar kalt, aber Leonie bemerkt, wie mit dem Waschen ihre Lebensgeister langsam zurückkehren. Die Lauge von Klaus richt tatsächlich entsetzlich. Um den Geruch abzuwaschen, braucht sie noch mehr kaltes Wasser. Danach kribbeln ihre Arme und Beine.

"Wasch auch deinen Schlafanzug", sagt Rosie, und drückt ihr den Laugenbehälter in die Hände. "Ich hole dir etwas Frisches zum Anziehen."


Später führt Rosie Leonie um das Haus. Ein einfaches Gebäude, unten weisser Stein und oben von den Jahrhunderten schwarzgrau gegerbtes Holz. "Das Dach ist dicht", erzählt Rosie. "Die meisten Fensterrahmen sind kaputt, die Fenster herausgefallen. Deshalb halten wir die Läden meist geschlossen, wenn es nachts kalt wird."

Eine Bank steht an der Südwand des Hauses. Leonie merkt, dass sie müde ist. Sie ist Bewegung nicht mehr gewohnt. "Können wir uns setzen?"

Rosie nickt, und sie setzen sich auf die Bank. Leonie betrachtet den See. Einige Bäume und die Ruine eines anderen Gebäudes trennen ihr Haus vom Ufer.

"Wo sind Silvan und Jenna?", fragt Leonie.

"Sie sind draussen, sie suchen Essen und jagen."

Leonie mag das Wort sie in diesem Satz nicht. Aber die Wärme der Herbstsonne lockert ihre Muskeln und ihre Ängste. Sie schliesst die Augen und entspannt sich.


Sie träumt von Bären, und der Traum fühlt sich an wie eine Vorahnung.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now