Tauwetter, und At the End of All Things

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Die warmen Strahlen der Sonne verwandeln den Schnee unter Leonies Füssen langsam in Matsch. Sie folgt den Spuren eines Fuchses am Rande der Stadt.

Die Fussabdrücke des Tiers führen an einem grossen Gebäude vorbei. Neugierig mustert sie die fast unversehrte, herrschaftliche Steinfassade des Hauses. Hier stinkt's nach Geld, hätte Leonie früher dazu gesagt.

Die Spuren führen am Gebäude vorbei. Leonie zögert. Das Haus scheint recht gut erhalten, vielleicht enthält es etwas Nützliches.

Langsam nähert sie sich dem Eingang. Die Holztür ist schon lange umgekippt ist und bildet jetzt wahrscheinlich das Erdreich, auf dem einzelne Grasbüschel wachsen, die der schmelzende Schnee freigegeben hat. Vorsichtig geht Leonie hinein. Mit prüfenden Schritten untersucht sie Stabilität des Untergrunds. Doch im Innern des Gebäudes ist der Boden aus massivem Stein und scheint all die Jahrhunderte gut überstanden zu haben.

Im Raum vor ihr führt eine einstmals herrschaftliche Treppe nach oben, in ein Wirrwarr von herabgestürzten Dachbalken. Sie geht an der Treppe vorbei und gelangt in einen Raum dahinter. Auch hier findet sie nichts ausser einigen Metall- und Kunststoffteilen, welche früher vielleicht einmal Möbel waren.

Sie ist im Begriff, zur Eingangshalle zurückzukehren, als sie unter der grossen Treppe eine Türe entdeckt, die noch fast unversehrt in ihren Angeln hängt. Dies ist ungewöhnlich.

Sie ist aus Metall, braunschwarz oxidiert. Leonie drückt die Türfalle nach unten. Zunächst passiert nichts, aber plötzlich gibt der Mechanismus nach. Sie drückt eine Schulter gegen die Türe und sie öffnet sich unter lautem Quietschen.

Eine Treppe führt hinunter in die Dunkelheit des Kellers.

Leonie liebt es, die Ruinen zu durchsuchen. Deshalb führt sie in ihrem Rucksack immer eine Fackel mit, einen Holzstab, dessen eines Ende mit klebrigen Teer aus ehemaligen Autoreifen bestrichen ist. Ihr Feuerzeug ist schon lange leer, aber es sprüht immer noch Funken, wenn sie das Rädchen dreht. Mit diesen Funken steckt sie den Teer in Brand.

Mit brennender Fackel steigt sie die Treppe hinab. Sie gelangt in einen kurzen Korridor, der vor einer weiteren Türe endet. Diese besitzt einen Rahmen aus Metall und eine Füllung aus Beton, Stahlbeton, in welchen die Bewehrung rostige Spuren gezeichnet hat. Sie zieht am Hebel, der sich erstaunlich einfach betätigen lässt. Als sich das Schloss löst, ertönt ein Geräusch entweichender Luft, irgendwo zwischen einem Zischen und einem Seufzen.

Leonies spürt ihren aufgeregten Herzschlag. Sie liebt diese Augenblicke, wenn sie das Gefühl hat, in einer Ruine auf etwas zu stossen, das seit Jahrhunderten darauf gewartet hat, von ihr wiederentdeckt zu werden.

Sie zieht an der Tür.

Im unruhigen Licht ihrer Fackel sieht sie einen Raum, in welchem erstaunlich gut erhaltene Möbel stehen. Sie tritt ein und schaut sich um.

Der Raum ist gross. Auf einer Seite befindet sich eine Reihe von Metallgestellen, in denen unterschiedlichste Kisten, Behälter und andere Gegenstände gelagert sind.

Ein leichter, chemischer Gerucht liegt in der Luft, der sie an Mottenkugeln erinnert.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums steht eine Reihe von Betten. Sie sind mit bräunlichen Decken belegt. Es sind die ersten richtige Betten, die Leonie in dieser Welt gesehen hat. Sie nähert sich ihnen und berührt den Stoff. Das alte Gewebe ist brüchig zwischen ihren Fingern.

Auf zwei Tischen neben den Betten stehen Geräte. Deren Kunststoffgehäuse sind geplatzt, und etwas, das wie ein Monitor aussieht, ist umgekippt.

Dann schweift ihr Blick über die Wand hinter den Tischen. Sie braucht einen Moment um zu erkennen, was sie dort sieht.

Ein Regal. Mit Büchern.

Sie tritt langsam näher und verspürt eine seltsame Angst, das Gestell könnte sich plötzlich in Luft auflösen. Mit dem Zeigefinger berührt sie eines der Bücher. Der Rücken knistert, als sie dagegen drückt. Vorsichtig nimmt sie es heraus. Der Umschlag ist an seinen Rändern aufgeplatzt, der Papiereinband kaum lesbar und brüchig. Sie versucht, den Titel zu entziffern: "Lexikon der Mechanik".

Sie legt das Buch andächtig auf den Tisch und öffnet den Buchdeckel, was dem Einband ein beängstigend knisterndes Geräusch entlockt. Die Blätter sind gelblich und drohen zu brechen, aber sie lassen sich umlegen und der Text ist leserlich.

Fasziniert geht sie zum Gestell zurück. Neben dem Lexikon der Mechanik stehen ein Lexikon der Chemie, ein Lexikon der Maschinentechnik und ein Lexikon der Physik. Bei Letzterem denkt sie kurz daran, wie die Sache angefangen hat, vor Jahrhunderten, bei einer Wanderung im Regen. Sie schüttelt den Kopf und geht die Bücher weiter durch. Das Gestell enthält vor allem Sachbücher, aber auch einige Romane.

Als sie eine Ausgabe von "Herr der Ringe" erblickt, bleibt ihr kurz der Atem weg. Liebevoll und sanft streicht sie über den Buchrücken und denkt an Frodo, Sam, Gandalf und Aragon.

I'm glad to be with you ... here at the end of all things.

Sie weiss nicht, wieso ihr ausgerechnet dieser Satz durch den Kopf geht. Sie glaubt sich zu erinnern, dass Frodo das zu Sam gesagt, irgendwo in Mordor.

Das Licht ihrer Fackel beginnt zu schwinden. Sie steckt das Buch vorsichtig in ihren Rucksack. Dann verlässt sie den Raum. Sie schliesst die untere und die obere Türe sorgfältig hinter sich.


Auf dem Rückweg trifft sie, kurz vor ihrem Haus, auf Jenna und Silvan. Zur Begrüssung hält Silvan stolz eine erlegte Ente hoch.

"Cool", quittiert Leonie. "Oh, mächtiger Jäger."

"Und, hast du auch etwas erwischt?" fragt Jenna.

"Ja", antwortet Leonie grinsend. "Etwas ganz Grosses."

Fragend mustern Silvan und Jenna ihren fast leeren Rucksack. "Na sag schon", drängt Silvan.

"Überraschung. Ich zeig's euch zuhause."


Als sie ihr Haus erreichen, wartet Leonie, bis sie die ungeteilte Aufmersamkeit ihrer vier Freunde hat. Dann wühlt sie theatralisch in ihrem Rucksack und hält schliesslich das Buch hoch. "Ta da!"

Klaus ist der erste, der sie erreicht und ihr die Beute abnimmt.


Nachdem sie Klaus wieder vom Buch gelöst hat, erzählt Leonie ihren Freunden vom Kellerraum, den sie entdeckt hat, und von den Schätzen, die er enthält. Sie beschliessen, sich die Sache am nächsten Tag genauer anzusehen. Vieles könnte noch brauchbar sein, und vielleicht würden sie einige Antworten darauf finden, wie diese Welt zu dem wurde, was sie heute ist. 

Welt der RuinenOù les histoires vivent. Découvrez maintenant