Der Beginn einer Expedition, und eine Burg auf dem Wasser

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Rund einen Monat später paddelt Leonie mit Jenna und Silvan über den See, in ihrem Boot, dem sie zwischenzeitlich den Namen Titanic gegeben haben. Sie sind unterwegs in das Tal, in welchem Leonie an jenem Wintermorgen Rauch hat aufsteigen sehen.

Je mehr sie über jenen Morgen nachdenkt, an welchem die Welt so kalt im Licht der aufgehenden Sonne glühte, desto unwirklicher kommt ihr die Erinnerung vor. Das Gold des Schnees, das Leuchten der Berge. Und der Bär. 

Eine Lagerfeuergeschichte – aber die Wirklichkeit? Wir werden sehen.

Silvan sitzt, wie üblich, zuvorderst im Boot, Jenna in der Mitte, Leonie ganz hinten. Der Platz zwischen ihnen ist mit Vorräten und Ausrüstung vollgesopft.

Klaus und Rosie sind im Haus am See zurückgeblieben, da im Boot nur drei Leute Platz finden.

Das Wasser glitzert im Sonnenlicht. Der Tag wäre herrlich, Leonies Stimmung ist es aber nicht. Sie schüttelt den Kopf. Eigentlich müsste sie sich freuen – endlich sind sie auf der Expedition, wie sie es sich schon lange gewünscht hat. Aber heute Morgen, beim Abschied von Rosie und Klaus, sahen die zwei aus, wie ein altes, glückliches Ehepaar. Und Silvan und Jenna können das Turteln und Gurren nicht lassen.

Immerhin könnte sie ja vielleicht Patentante werden, wenn die beiden Weibchen mal werfen.

Na toll!

Aber es fühlt sich gut an, in der sanften Wärme der Frühlingssonne über das Wasser zu paddeln. Als Silvan und Jenna schliesslich ihr Geschwätz einstellen, geniesst sie die Stille. Und hier draussen gibt es nichts, das sie angreifen, beissen oder kratzen würde, bis auf ein paar Mücken.


Gegen Abend hat sich Leonies Stimmung deutlich verbessert. Die drei fahren über den See, am Ufer entlang, in friedvoller Routine. Das einzige Geräusch ist das leise Klatschen des Wassers, wenn sie ihre Paddel eintauchen.

Leonie betrachtet Jennas Rücken vor ihr. Die Bluse, die sie trägt, war früher einmal weiss. Aber weiss ist eine schlechte Farbe für jemanden, der in der Wildnis lebt, wenn das einzige Waschmittel Klaus' Lauge ist. Rosie hat die Bluse deshalb zu färben versucht, mit blauen Blütenblättern. Das Resultat ist, zu Jennas grossem Bedauern, ein unregelmässiges Braun. Aber Jenna sieht immer noch unanständig gut darin aus, denkt Leonie, während sie ihr langes Haar betrachtet, das sich wie ein blonder Wasserfall über das Gewebe ergiesst.

Gesättigt von all dem Blond wandern Leonies Augen zum Land zu ihrer Linken. Schräg vor ihnen steht eine Burg im Wasser, nahe am Ufer. "Schaut mal", sagt sie, und weist mit ihrem Paddel in die Richtung.

"Wow! Das wäre doch eine angemessene Bleibe für die Nacht", meint Silvan.

"Au ja!" bestätigt Jenna, in ihrer besten Weibchenstimme.

Wie die meisten dieser wirklich alten Gebäude ist die Burg ziemlich gut erhalten. Nur ein Teil der Holzdächer ist in sich zusammengefallen.

Die Burg steht auf einer Insel oder einem Fels, an der nächsten Stelle wenige Meter vom Land entfernt. Von einer Brücke, welche die Burg früher einmal mit dem Land verbunden hat, sind nur noch die steinernen Pfosten übrig, welche wie vergessene I-Striche pedantisch im Wasser stehen.

Mit dem Kanu können sie direkt an der Insel anlegen. Von der Anlegestelle führen Stufen im Fels zu einem Nebeneingang. Die Türe, welche diesen verschliesst, ist erstaunlicherweise noch intakt, doch das morsche, graue Holz gibt nach, als Silvan fest dagegen drückt.

Zu dritt durchschreiten sie die Hallen der Anlage. Einige der Holzmöbel und ein paar Vitrinen sind noch erhalten, das meiste ist jedoch zerfallen. Alles ist mit einer Staubschicht bedeckt.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now