Wasser unter ihnen, und von oben

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Leonie packt ihre Sachen. Da sich das Messer schon in ihrer Hosentasche befindet, braucht sie lediglich die Flasche und den Kessel aufzunehmen, ihre Wasservorräte. Es hat auch Vorteile, mit wenig Gepäck zu reisen.

„Komm", sagt sie zu Anna. „Lass uns gehen. Wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir vielleicht am Abend schon zuhause." Beim Wort „zuhause" sieht Leonie vor sich das Bild des Hauses am See, und ein warmes Gefühl macht sich in ihrem Bauch breit. Sie lächelt.

Anna erwidert das Lächeln nicht, ihr Gesicht ist angespannt. Sie erhebt sich langsam und stützt sich dabei gegen die Wand. Da Leonies Hände voll sind, offeriert sie ihr ihre Schulter als Stütze. Sie verlassen die Villa und durchqueren das Gebüsch, welches das Haus vom See trennt. Beim Bootshaus setzt sie Anna auf einem Felsen nahe am Wasser und stellt ihre Sachen auf den Boden.

„Warte hier", sagt sie ihr. „Ich hole das Boot."


Wenige Minuten später ist das Kanu an einem Ast festgebunden. Es dümpelt sanft im Wasser und wartet darauf, dass Anna einsteigt.

Die Wasseroberfläche wird immer noch von den Einschlägen Tausender kleiner Regentropfen gezeichnet.

Anna sitzt auf ihrem Felsen, starrt auf das schwankende Boot und hat ihre Arme um ihren Körper gelegt. „Ich kann das nicht", wiederholt sie, etwa zum hundertsten Mal. „Es ist nicht sicher."

Leonie macht Anstalten, auf ihre Armbanduhr zu schauen, doch sie realisiert, dass sie gar keine mehr hat. Schon lange nicht mehr. Aber die Zeit läuft dennoch, und ohne ein Mittel um die Sekunden zu zählen ist ihr heimtückisches Fortschreiten noch bedrohlicher. Leonie weiss, dass sie losfahren sollten, Anna baldmöglichst nachhause bringen müssen. Sie braucht Pflege. Und wenn sie jetzt nicht starten, werden sie es bis zum Abend nicht mehr schaffen.

Etwas muss jetzt geschehen.

Anna lässt ihren Kopf hängen, ihren Oberkörper eingerollt. Sie zittert.

Leonie nähert sich ihr und legt eine Hand auf ihre Schultern. Sie fühlt das kalte, nasse Gewebe. Dann holt sie Luft und führt einen Arm unter Annas Beine, während sie den anderen gegen ihre Schulter drückt. Ohne auf ihre Reaktion zu warten, hebt sie Anna hoch, dankbar dafür, dass sie von geringer Statur und geschwächt ist. Anna schreit auf und blickt Leonie mit einer Mischung aus Schrecken und Entrüstung an, aber Leonie steht bereits im Wasser und setzt ihr Opfer Momente später ins Boot. Es schaukelt heftig und kentert fast. Anna macht eine Bewegung Richtung Land, aber dann hält sie inne und starrt ungläubig auf das Wasser, das sie umgibt. Sie wirft Leonie einen finsteren Blick zu und klammert sich an der vorderen Bank des Kanus fest.

Leonie watet zum Ufer zurück, nimmt den Kessel und die Flasche und stellt beide ins Boot. Beim Einsteigen fühlt sie Annas Blick, aber sie erwidert ihn nicht. Stattdessen greift sie nach dem Paddel.


Der Himmel ist grau. Der monotone Regen hat Leonie bis auf die Knochen durchnässt. Doch die Routine des Paddelns, mit welcher sie das Boot seit vielleicht einer Stunde vorantreibt, hält sie warm. Immer wieder führt sie das Paddel ins Wasser, die Bewegung automatisch, verinnerlicht, wie ein Gebet, in Trance.

Ihre Augen sind auf das Ufer gerichtet, welches etwa hundert Meter neben ihnen langsam vorbeigleitet. Die Bäume und einzelne Ruinen stehen still da, gleichgültig, ohne sich um das Wetter und die Sorgen der Menschen zu kümmern.

Aber ihr Zuhause ist in Griffnähe, jeder Paddelschlag bringt sie näher, und Leonie ist begierig voranzukommen. Auf ihrem Hinweg, damals, haben Silvan, Jenna und sie eine Nacht in der Burg am Wasser verbracht, aber nur deshalb, weil sie erst spät am Morgen gestartet waren. Heute hatten sie einen frühen Start, nachdem Leonie Anna geschangheit hat.

Welt der RuinenNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ