Ballspieler, und eine Jogginggruppe

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Leonie sitzt in ihrem üblichen Versteck in der Nähe des Dorfs und geniesst die sanfte Wärme der Morgensonne auf ihrer Haut. Von den Häusern weht der komplexe Duft von frisch gebackenem Brot heran, und sie bemerkt, wie ihr das Wasser im Mund zusammenläuft.

Seit ihrer Ankunft beim Dorf sind drei Tage vergangen. Sie hat diese Zeit damit verbracht, die Dorfleute und jene aus dem Bunker zu beobachten, in der Hoffnung etwas zu erfahren, das ihr dabei helfen würde, Jenna und Silvan zu helfen.

Zwischen den Häusern spielen vier Kinder mit einem Ball.

Der Ball scheint aus Stoff genäht, gefüllt mit irgendwas Weichem. Die vier werfen sich, nach ihr unverständlichen Regeln, den Ball zu. Sie bleiben dabei aber seltsam ruhig. Wo Leonie als Kind gelacht oder gekreischt hätte, verläuft hier alles in fast völliger Stille. Nur manchmal reden die Kinder miteinander – offenbar geht es dabei darum, wann der Ball zu Boden fallen darf und wann nicht. Aber sie tun dies nicht, wie Kinder solche Diskussionen nach Leonies Erfahrung austragen. Sie streiten sich nicht, sie schreien nicht. Sie erinnern Leonie an die Junkies, die sie früher, in ihrem anderen Leben, manchmal beim Bahnhof hat stehen sehen. Gelassen, entspannt, so unaufgeregt wie welkes Gemüse.

Das Verhalten der vier Kinder spiegelt jenes der Erwachsenen wieder, die Leonie im Laufe der letzten drei Tage beobachtet hat. Die Leute im Dorf sind meist ruhig und entspannt, und selten sah sie jemanden lachen. Niemals sah sie Streit. Leonie fragt sich, was die wohl rauchen.

Die Erwachsenen verbringen die meiste Zeit auf den Feldern, hinter dem Dorf, wo sie damit beschäftigt sind, mit Hacken einen Acker umzugraben und auf einigen weiteren Feldern Unkraut zu jäten. Zudem halten sich die Dorfbewohner Schafe und Kühe auf ein paar Wiesen, die mit groben Bretterzäunen eingehegt sind. Weiter als bis zu ihren Feldern scheinen sich die Leute kaum jemals vom Dorf wegzubewegen.

Sie schätzt die Bevölkerung auf etwa dreissig bis fünfzig Personen.

Das Spiel der Kinder wird unterbrochen, als drei Männer das Dorf betreten. Sie kommen vom Bunker.

Die Leute vom Bunker sind bisher jeweils einmal täglich im Dorf erschienen, um dort Nahrungsmittel zu holen. Jedes Mal war der grosse Blonde dabei. Wie auch jetzt.

Sie werden von vier Dorfbewohnern begrüsst, dem Langhaarigen und drei Frauen. Einer der Männer vom Bunker überreicht den Frauen drei grosse, offenbar leere Körbe. Diese verschwinden damit im Vorratsgebäude und kehren kurz darauf zurück, die Körbe nun gefüllt. Leonie sieht in einem davon Gemüse und Früchte, mehr kann sie nicht erkennen. Sie übergeben die Lebensmittel den Männern vom Bunker.

Das Treffen dauert wenige Minuten. Nach einem kurzen Gespräch wenden sich die drei Männer bergwärts und beginnen mit dem Anstieg zum Bunker. Die Dorfbewohner schauen ihnen wortlos nach.

Leonie verlässt ihren Beobachtungspunkt und folgt den Bunkerleuten. Sie achtet darauf, dass das Gebüsch sie vor den Blicken der Leute schützt.

Als sie der Felswand näher kommt, sieht sie, dass das Tor offen steht. Davor stehen einige Leute, welche die Männer mit den Körben begrüssen. Die Gruppe unterhält sich angeregt, ganz anders als die Leute vom Dorf.

Die Männer mit den Körben verschwinden im Bunker, nur der grosse Blonde bleibt draussen stehen und unterhält sich weiter mit zwei Frauen und einem Mann.

Leonie beobachtet die Gruppe eine Weile lang. Bereits am Vortag hat sich eine ähnliche Szene abgespielt. Leute aus dem Bunker, die draussen rumstehen und offenbar die frische Luft geniessen.

Manchmal trägt der Wind Gesprächsfetzen zu Leonie. Sie versteht das eine oder andere Wort. "Äpfel", hört sie, "im Dorf unten" und "Korb". Offenbar, und zu ihrer grossen Erleichterung, sprechen die Leute Deutsch, wenn auch mit einer seltsamen Aussprache.

Dann treten vier weitere Leute aus dem geöffneten Tor, zwei Männer und zwei Frauen, Jugendliche, etwa in Leonies Alter. Leonie hat sie noch nie gesehen. Sie begrüssen die anderen und reden mit ihnen.

Eine der Neuankömmlinge, eine Frau in Uniform, hat einen Pistolenhalter umgeschnallt. Die zweite Frau trägt dunkles, schulterlanges Haar. Sie spricht gestikulierend mit einem der anderen Jugendlichen, einem Lockenkopf. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter und versucht sie offenbar zu beruhigen. Der andere junge Mann, er trägt einen Schnurrbart, redet mit dem grossen Blonden, dem General.

Nach einer Weile verabschieden sich die Jugendlichen von den anderen Leuten, und die Frau mit der Pistole beginnt, einen Weg entlang zu joggen, der vom Tor parallel zur Felswand in den Wald führt, in welchem Leonie sich versteckt. Die drei anderen folgen ihr.

Leonie hält sich reglos im Gebüsch versteckt und beobachtet, wie die vier Leute im Wald verschwinden, nur wenige Meter von ihr entfernt.

Das sieht ja interessant aus, denkt sie sich, und grinst. Sie wartet ein paar Sekunden. Dann begibt sie sich im Schutz des Waldrands dorthin, wo der Pfad in den Wald eintritt, um den Leuten zu folgen. Das will sie sich genauer anschauen.

Der Weg führt den Hang entlang, auf etwa konstanter Höhe. Von den vier Läufern ist nichts mehr zu sehen. Leonie beginnt, dem Pfad entlang zu traben. Sie ist bereit, sich jederzeit in die Büsche zu schlagen.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now