Wasser kochen, und ein Besucher

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Auf ihrem nächtlichen Marsch wechseln Leonie und Anna nur wenige Worte. Der unebene Boden des Waldes und Hindernisse in der Dunkelheit machen das Vorankommen schwierig. Immer wieder stolpert Anna. Leonie hilft ihr, führt sie am Arm. Sie überlegt sich anzuhalten und das Tageslicht abzuwarten. Aber das Bild von Annas Wunde und von ihrem tintenschwarzem Blut hängt in Leonies Gedanken und treibt ihre Schritte in die Richtung ihres Lagers.

Leonie ist kein Arzt, und Anna braucht einen.

Einmal glaubt Leonie Stimmen zu hören und Anna zuckt neben ihr zusammen. Sie horchen. Aber das einzige Geräusch ist das spöttische Flüstern eines Bachs.


Im Morgengrauen erreichen sie  Leonies Lager. Das erste Licht der Sonne berührt die Bergspitzen, das Tal liegt immer noch in den Schatten der sich zurückziehenden Nacht.

„Hier", sagt Leonie. „Das ist mein Versteck. Meine Sachen sind da drin." Sie weist auf die Ruine des kleinen Hauses vor ihnen.

Annas Gesicht ist bleich, noch bleicher als sonst. Ihre Tränen sind seit langem getrocknet, aber ihre Lippen hat sie zu einem Strich zusammengepresst. Sie hält ihre Hand auf die Wunde und schweigt.

„Setz dich", sagt Leonie.

Mit einem Seufzer sinkt Anna auf den Boden und lehnt sich an eine Mauer.

„Lass mich das anschauen." Sanft zieht sie Annas Hand von ihrem Oberarm weg. Der Ärmel ist zerrissen. Die Blutung ist zurückgegangen, aber bei jeder Bewegung treten frische, rote Tropfen aus dem Riss, den die Kugel hinterlassen hat.

„Ich..." Leonie hält inne und sucht nach Worten. Sie hat keine Ahnung, was zu tun ist. Die Krankenpflege war immer Rosies Aufgabe. „Hast du Erfahrung mit so etwas?"

Anna schüttelt den Kopf. Ihr Blick ist starr auf den Boden vor ihr gerichtet. Auf ihrer Stirn glänzt der Schweiss.

„Ich glaube", sagt Leonie, fest entschlossen, etwas für Anna zu tun, „wir brauchen heisses Wasser. Dann kann ich die Wunde auswaschen. Und wir können etwas auskochen, als Verband. Deinen Ärmel vielleicht."

Anna nickt. „Danke." Ein Flüstern.

„Warte hier", sagt Leonie, und macht sich auf die Suche nach Holz.


Wenig später brennt vor ihrem Haus ein Feuer und in Leonies Topf wird langsam Wasser warm. Leonie bläst in die Flammen, bis ihre Augen vom Rauch brennen und sich alles in ihrem Kopf zu drehen beginnt. Das Holz ist etwas feucht und brennt schlecht. Leonie überlegt sich, wo sie trockeneres Brennmaterial finden könnte.

Sie erhebt sich und fühlt die ersten Strahlen der Sonne auf ihrem vom Schweiss nassen Rücken.

„Hey", sagt Anna. Sie sitzt immer noch an der Hauswand.

„Ja?" Leonie geht zu ihr. Erschöpft setzt sie sich neben sie an die Mauer. Eine Welle von Müdigkeit erfasst sie.

„Es tut mir leid." Annas Stimme ist leise. Sie starrt den Kessel an, der auf dem Feuer mehr geräuchert als geheizt wird.

„Was? Was tut dir leid? Dir braucht nichts leid zu tun. Du hast mich da rausgeholt, aus dieser Zelle... Nur deshalb bist du jetzt hier. Deshalb bist du verletzt. Mir tut das leid."

„Aber es waren meine Leute. Wir haben dich eingesperrt. Wir haben –" Anna hält inne.

Der Wind trägt ein anhaltendes Pfeifen heran, ein Geräusch, das in der Bergwildnis wie ein Eindringling klingt. Leonie blickt hoch. Schräg über ihnen hängt ein Objekt am Himmel. Grösse und Distanz sind schwierig abzuschätzen, vielleicht hundert, zweihundert Meter. Das Ding scheint etwa so gross wie ein Adler, sieht aber eher aus wie eine Spinne. Über ihm blitzt etwas im Sonnenlicht. Propeller?

„Was zum Teufel...?" fragt Leonie.

„Die Drohne", antwortet Anna. „Das ist ein Gerät aus dem Reduit. Aus dem Bunker, wie du ihn nennst. Es ist alte Technologie. Jan kann es steuern. Fernsteuern, nennt er das."

„Kann er uns damit sehen?"

„Jan hat einen Bildschirm. Dort sieht man das, was die Drohne sieht. Er hat es uns mal gezeigt."

In einem eleganten Bogen weicht die Drohne einem Baumwipfel aus und nähert sich ihnen langsam.

Leonie reisst ihre Augen vom Gerät. „Der Rauch!" Es läuft ihr kalt über den Rücken. „Er muss den Rauch unseres Feuers gesehen haben."

Dann kommt Leonie ein weiterer Gedanke und ihr Herz stockt. „Ist das Ding bewaffnet? Kann es uns angreifen?"

„Ich glaube, Jan hat mal gesagt, dass es etwas abwerfen kann ..." Anna zögert. „Ich weiss nicht mehr, was es war. Ich kannte das Wort nicht, das er gebraucht hat."

Leonie erhebt sich. „Komm, hauen wir ab von hier!"

Sie hilft Anna hoch, und zusammen laufen sie in den Wald hinter dem Gebäude.

Im Schutz der Bäume bleiben sie stehen und lauschen. Das Geräusch der Drohne ist immer noch hörbar, aber es ist nicht näher gekommen.

„Vielleicht hat er uns nicht gesehen. Komm!" sagt Leonie und bewegt sich hangaufwärts.

Sie erreichen eine Stelle oberhalb des Lagers, wo sich die Bäume etwas lichten. Sie bietet freie Sicht.

Die Drohne hängt noch immer über dem Gebäude und bewegt sich langsam hin und her, als wäre sie sich unsicher, was zu tun ist. Dann steigt sie etwas höher und hält wieder inne.

Leonie sieht, wie sich ein kleiner Gegenstand von der Drohne löst und nach unten fällt. Augenblicke später breitet sich dort, wo gerade noch ihr Nachlager war, ein Feuerball aus. Dann hören sie ein ohrenbetäubendes Krachen, und es bläst ein heisser Windstoss in ihre Gesichter.

„Kacke!", sagt Leonie.

Welt der RuinenOnde histórias criam vida. Descubra agora