Erkenntnisse und ein Kanu

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Die nächsten Tage verbringen Leonie und ihre Kameraden die meiste Zeit im Haus mit der "Bibliothek", die sie entdeckt hat.

Es zeigt sich, dass die meisten Bücher sich noch lesen lassen, wenn man die Seiten vorsichtig umblättert. Offenbar war der Raum all die Jahre ziemlich luftdicht abgeschlossen und trocken, wodurch der Zerfall des Papiers verlangsamt wurde.

Klaus ist vom Wissensschatz, der sich ihm hier eröffnet, am meisten angetan, aber auch die anderen lesen fasziniert in den alten Büchern.

Eines dieser Bücher ist ein Geschichtsbuch über die Zeit ab dem Jahrtausendwechsel bis rund 2200.

Sie erfahren, dass die meisten Staaten Europas im Jahr 2189 zu einem einheitlichen Staat verschmolzen . Kanada hatte sich einige Jahre früher schon den USA angeschlossen, und die beiden gingen eine lose Verbindung mit einem Block ein, der sich America Latina nannte und die Länder zwischen Mexico und Argentinien umfasste. Es gab einige Spannungen zwischen der alten und der neuen Welt, aber nie einen offenen Konflikt.

Die Länder Asiens begannen sich abzuschotten und waren nur noch über die Philippinen, Japan und Indien zugänglich, welche aktive Kontakte nach aussen unterhielten.

Afrika gewann an Macht und Einfluss. Im Süden schaffte es eine starke und stabile Führung in Kenia, eine Föderation der meisten Staaten südlich des Äquators zu gründen, während der Maghreb den Kristallisationspunkt einer ähnlichen Gruppe im Norden bildete. Diese beiden afrikanischen Blöcke unterhielten eine grösstenteils kooperative und friedliche Zusammenarbeit. In der daraus resultierenden Stabilität erblühte der an natürlichen Ressourcen reiche Kontinent. Aber dies erzeugte grosse Spannungen mit Europa und den beiden amerikanischen Gruppen, welche ihren Einfluss in Afrika nicht verlieren wollten.

Aber weder dieses Buch noch irgend ein anderes der Werke, welche sie finden, geben Aufschluss darüber, wieso die Zivilisation unterging.

Die Bücher sind nicht die einzigen Schätze im Kellerraum.

Einige der Kisten in den Gestellen enthalten Vorräte, welche beim Öffnen einen üblen Geruch verbreiten. Silvan und Klaus schleppen diese nach draussen.

Andere enthalten Ausrüstung. Auch wenn vieles davon über die Jahre nutzlos geworden ist, finden sie einiges, das sie brauchen können, insbesondere Werkzeuge, Nägel, Schrauben, Klemmen und anderes.

Sie finden auch einige Waffen. Silvan experimentiert mit einem Gewehr, und holt sich dabei Verbrennungen an beiden Händen. Klaus meint, dass die Munition offenbar instabil geworden ist. Eine Armbrust, welche Leonie ausprobiert, funktioniert noch, aber ihre Sehne reisst nach wenigen Schüssen.

Besonders fasziniert ist Klaus von einem Generator, der unter anderem über eine Wasserturbine angetrieben werden kann. Er hofft, das Ding zum Laufen zu bringen. Was er damit aber betreiben möchte, ist für Leonie rätselhaft.

Viele der elektrischen Geräte bleiben rätselhaft, deren Funktionen unklar. Die meisten davon sind offensichtlich nicht mehr funktionsfähig, aber Klaus brennt darauf, das genauer zu prüfen.

Rosie und Jenna durchwühlen den reichen Vorrat an Kleidern und Decken, welchen sie in einigen der grössten Kisten finden. Vieles davon ist brüchig und nutzlos, wie die Decken auf den Betten, aber einige der synthetischen Materialien haben die Zeit überstanden. Rosie findet einen grell-orangen Regenmantel, welcher ihr passt und den sie sofort für sich beansprucht. Leonie nimmt ihr das nicht übel, orange ist nicht ihre Farbe.

Ganz hinten im Lager finden sie ein Boot. Eine Art grosses Kanu mit einem Rumpf aus Fiberglas. Sie schaffen es, das Ding durch die Treppe nach oben zu schaffen. Dann tragen sie es zum See. Es ist erstaunlich leicht und nach all den Jahren noch immer wassertauglich.


"Das war irgend ein Survival-Freak", sagt Rosie unter ihrem orangenen Regenmantel, als sie sich an einem Abend im Nieselregen auf dem Rückweg zu ihrem Haus befinden. Sie stellen Vermutungen an, wer die Bibliothek, oder den Bunker, eingerichtet hat.

"Denke ich auch", antwortet Klaus. "Aber der Raum wurde offenbar nicht benutzt, als es damals passierte. Ich meine, als die Katastrophe eintrat. Die Betten waren unberührt, die Vorräte auch. Es muss ziemlich schnell geschehen sein, was immer es war."

Leonie nickt, ohne etwas zu sagen. Sie teilt das Gefühl auch. Immer wieder hat sie auf ihren Streifzügen Überreste von Menschen gefunden. Knochen, selten Kleidungsstücke. Einige fand sie in ihrem Bett, andere in Büros, Küchen oder Restaurants, andere auf der Strasse. Ein klares Bild, wie oder wieso die Menschen gestorben sind, ergibt sich nicht.

Das Rätsel bleibt, unverändert. Leonie hasst Geheimnisse.

Sie blickt auf den Weg vor sich. Der Schnee ist fast überall geschmolzen.

"Hey, Leute", sagt sie laut. "Langsam wird es Zeit. Ihr habt versprochen, dass wir im Frühling ins Tal gehen, dorthin, wo ich den Rauch gesehen habe."

Und dieses Mal wird sie nicht nachgeben.


Welt der RuinenWhere stories live. Discover now