Eine Zelle und ein Lichtschimmer

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Leonie starrt in die Dunkelheit ihrer Zelle. Sie macht ein paar Schritte auf die Stelle zu, wo sie die Gittertüre vermutet. Ihre Hände ertasten die kalten Metallstäbe. Sie hält sich daran fest und lässt Wellen von Übelkeit an sich vorbeiziehen. Ihr Kopf schmerzt immer noch vom Schlag, den ihr Jan versetzt hat.

Nachdem sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt haben, erkennt sie einen schwachen Lichtschimmer, welcher sich auf dem Boden und den Wänden des Korridors vor der Gittertüre abzeichnet. Das Licht kommt durch einen Spalt am unteren Ende einer Türe, die den Korridor vom Rest des Bunkers trennt.

Die Gitterstäbe ihrer Zelle bilden schwarze horizontale und vertikale Schatten.

Mist.

Wie ein Tier in die Falle gelaufen. Wie ein Tier eingefangen und eingesperrt. Wie ein Tier angsterfüllt, hilflos und dumm.

Sie rüttelt am Gitter. Die Stäbe rattern, aber die Türe bleibt geschlossen.

Sie dreht sich um und blickt in ihre Zelle. Im Dunkeln erkennt sie die Umrisse einer Pritsche. Sie geht darauf zu und setzt sich. Sie hört das leise Rauschen einer Lüftung, und manchmal, aus der Ferne, etwas das wie Stimmen und ein leises Klappern von Metall klingt.

Jan wird ihr jetzt auch einen Chip verpassen. Dann wird sie zu einem Gemüse werden. Ohne Willen, ohne Rückgrat. Eine Dienerin von Jan. Seine Sklavin.

Bei der Erinnerung an sein Grinsen krampft sich ihr Bauch zusammen. Sie ist froh, dass ihr Magen fast leer ist.

Sie steht wieder auf und geht nochmals zur Türe. Methodisch zieht und stösst an den Gitterstäben, aber nichts bewegt sich. Sie nimmt Anlauf und wirft sich mit der Schulter dagegen. Die Türe bleibt zu, aber ihr Oberarm schmerzt jetzt, noch mehr als ihr Kopf.


Es dauert Stunden, bis das Licht wieder angeht. Plötzlich und ohne Vorwarnung. Das Licht ist wie ein Hammerschlag für ihre Augen. Sie blinzelt.

Der Kleine mit Bart betritt den Gang vor ihrer Zelle. In seinen Händen trägt er eine Schüssel und eine Flasche. Ohne Leonie anzublicken, schiebt er die beiden Gegenstände unter den Gitterstäben hindurch.

„Danke", sagt Leonie, froh jemanden zu sehen.

„Hm", antwortet der Mann und wendet sich Richtung Ausgang.

„Hey, warte!" ruft Leonie, lauter als beabsichtigt. Sie weiss eigentlich nicht, was sie sagen soll, aber sie will nicht, dass er schon wieder geht.

Der Mann hält inne und blickt sie an. Seine Augen sind fast unter seiner buschigen Monobraue verborgen. Er schweigt.

„Was werdet ihr mit mir machen?" fragt Leonie. Das ist das erste, was ihr durch den Kopf geht.

Der Mann hebt kurz die Schultern. „Musst du Jan fragen."

Einen Moment lang ist Leonie versucht, den Mann zu bitten, Jan zu holen. Aber beim Gedanken an Jan wird ihr wieder übel, und sie verwirft die Idee. „Wie heisst du?", fragt sie stattdessen.

„Rbrt", murmelt der Mann unverständlich. Bevor Leonie nachfragen kann, dreht er sich um und geht zur Türe hinaus.

Also ehrlich, denkt sich Leonie. Die haben ja alle einen Knall. Ist der Typ auch gechippt?

Und dann wird es wieder dunkel.

Im düsteren Restlicht vom Türspalt sucht sie nach der Schüssel und der Flasche. Ihre Kehle ist ausgetrocknet. Sie trinkt begierig.

Dann nimmt sie die Schüssel und findet darin einen Löffel. Sie setzt sich auf die Pritsche. In der Schüssel befindet sie eine Art Eintopf. Gekochtes Gemüse und etwas Fleisch. Kalt und ziemlich fade, aber sie ist hungrig und isst alles auf.


Nach einer Weile kommt der Mann wieder. Leonie versucht sich an seinen Namen zu erinnern. Rbrt – Robert?

„Geschirr!" sagt er und streckt die Hand durch das Gitter. Leonie reicht ihm den Teller und die Flasche, beide leer. Den Löffel lässt sie auf dem Boden liegen.

„Ich muss mal", sagt sie, als sie ihm die Sachen übergibt. Es entspricht der Wahrheit. Und zudem möchte sie nicht, dass er gleich wieder geht.

„Warte", sagt er und geht mit dem Geschirr hinaus. Zurück bleibt sein Mundgeruch.

Das Licht lässt er an. Einige Minuten tut sich nichts. Dann kommt er zusammen mit der Pistolenträgerin zurück. Die kurzhaarige Frau trägt ihre Waffe in der Hand.

„Hallo", sagt Leonie, „mein Name ist Leonie".

Die Frau mustert Leonie, ihr Gesicht neutral. „Hallo. Ich bin Emma."

Robert hat einen Schlüssel bei sich und schliesst die Zellentüre auf. Er weist zum Ende des Gangs, gegenüber der Eingangstüre. „Das Klo ist dort", ergänzt Emma.

Leonie geht in die Toilette und befindet sich ein einem engen, funktionellen Raum. Am Klo fehlt die Brille. Dafür gibt es eine Wasserspülung. Sie sieht nichts, was sie brauchen könnte.

Als sie wieder rauskommt, blickt sie Emma an und wiederholt die Frage, die sie vorher Robert gestellt hat. „Was werdet ihr mit mir tun?"

Emma zögert, ihr Gesicht bleibt unbewegt, aber sie blickt Leonie aufmerksam an. „Das musst du Jan fragen."

„Wann werde ich ihn sehen?"

„Morgen. Und wir dürfen nicht mit dir sprechen", antwortet Emma. Sie weist mit der Hand zur Zelle und Leonie geht hinein.

Robert schliesst die Zellentüre, dann gehen beide hinaus, wortlos. Das Licht erlischt.

Leonie setzt sich auf ihre Pritsche.

Morgen wird sie mit Jan reden. Aber sie zweifelt daran, dass der nur reden will.

Sie denkt an Silvan und Jenna. Haben sie ihre letzte Nacht vor dem Chippen auch in dieser Zelle verbracht? Sie sieht ihre ausdruckslosen Gesichtszüge vor sich, mit denen sie Leonie das letzte Mal gemustert haben.

„Lieber sterbe ich, als zu so etwas zu werden", sagt Leonie in die Dunkelheit.

Sie legt sich auf die Pritsche.


Der Bär vor ihr mustert sie aufmerksam. Sie weiss, dass sie Angst haben müsste, aber sie freut sich, das Tier zu sehen. Töte mich, sagt sie ihm in Gedanken. Dann komme ich weg von hier. Der Bär grunzt, dann wendet er sich ab.

Hinter sich hört sie ein Lachen. Sie wendet sich um und sieht Jan. Er steht zwischen zwei Frauen. Die eine ist Anna. Die andere ist Emma, die Pistolenträgerin. Jan hat seine Arme um beide gelegt. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, wie jene der Dorfbewohner.

Leonie merkt, dass links und rechts neben ihr auch zwei Menschen stehen. Der eine ist Robert, der ihr das Essen gebracht hat. Der andere ist der Mann mit dem Lockenkopf, den sie beim Joggen mit Anna beobachtet hat.

Sie riecht Roberts Mundgeruch und erbricht.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now