Hunger und Gejaule

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Sie blicken über die Ruinen der Stadt, den See und die Berge. Ein Schwarm von Vögeln kreist als Gruppe winziger, dunkler Punkte über dem Tal. Bis auf die Vögel und die überall wuchernden Pflanzen ist alles wie ausgestorben.

Leonies Magen knurrt. Die Trockenfrüchte hat sie schon vor Stunden aufgegessen.

"Hört ihr das?" fragt Rosie. "Dort drüben?"

Zunächst meint Leonie, Rosie spreche über ihr Magenknurren, doch sie weist Richtung See.

Leonie vernimmt, ganz leise, ein Bellen und Jaulen.

"Hunde", sagt Silvan. "Dann sind Menschen nicht weit. Kommt!"

Er setzt sich in Bewegung, der Rest folgt ihm. Leonie geht kurz ein Bild durch den Kopf, ein Bild von Lemmingen, die sich, ihrem Leittier folgend, als hirnlose Herde über ein Kliff in den Tod stürzen. Aber alleine zurückbleiben will sie auch nicht – sie verzieht das Gesicht, dann folgt sie den anderen.


Die Stadt liegt nun zu ihrer Rechten. Der Weg wird schwieriger. Auch hier gehen sie auf einer ehemaligen Strasse, aber der Baumbewuchs ist dichter. Sie müssen über umgefallene Bäume und überwachsene Trümmerteile steigen. Immer wieder hören sie das Bellen und Jaulen vor sich, stetig lauter werdend.

Jenna geht vor Leonie, und Leonie stellt mit Befriedigung fest, dass sich Jennas Schlafsack jetzt wieder auf ihrem eigenen Rucksack befindet, wo er auch hingehört. Die Blondine trägt nun Shorts anstelle von Wanderhosen, und ihre Beine sehen ziemlich zerkratzt aus. Leonie ist froh, dass sie sich heute Morgen dafür entschieden hat, weiterhin die langen Hosen zu tragen, auch wenn ihre Beine nun schweissnass sind.

Ein Geruch von verrotteten Früchten liegt in der Luft. Leonie fragt sich, was Jenna in ihrem Rucksack gehortet hat.

Auf einmal bleibt Jenna abrupt vor ihr stehen. Leonie, in Gedanken, reagiert zu spät und kollidiert mit ihr. Beide fallen zu Boden. Leonie rappelt sich auf.

Heisser, unerwarteter Zorn steigt in Leonie hoch. "He, was war das für eine Bremsaktion?"

Jenna liegt immer noch im Gebüsch. Sie stützt sich auf ihre Hände und erhebt sich langsam, den Blick wortlos auf Leonie gerichtet. Leonie scheint es, dass sich in ihren Kuhaugen Tränen angesammelt haben.

Jenna schluckt, dann weist sie auf einen Baum neben dem Weg. "Schau dort!"

Leonie blickt sich den Baum genauer an. Ein Apfelbaum – und Leonie würde einen Apfelbaum nicht erkennen, wenn nicht auch Äpfel dran hängen. Nicht sonderlich grosse Äpfel. Aber eindeutig Äpfel. Einige davon liegen am Boden. Der Geruch vorhin muss von dort gekommen sein.

Die anderen sind inzwischen zu den beiden Nachzüglern zurückgekehrt. Jennas immer noch ausgestrecktem Arm folgend, sehen auch sie den Baum. Sekunden später stehen alle unter dessen Ästen, mit einer Frucht in der Hand und Wespen abwehrend. Die meisten der Äpfel sind noch nicht ganz reif, doch Leonie stört das nicht.

Nachdem sie ihre Mägen und Rucksäcke mit den Früchten gefüllt haben, weist Silvan sie an, still zu sein. Alle horchen. Das Gebell hat aufgehört.

"Kommt, gehen wir weiter, es muss hier in der Nähe sein", sagt Silvan.

Er dreht sich um und marschiert wieder los. Die anderen folgen ihm. Das Gebell setzt wieder ein.


Der Lärm der Tiere ist deutlich näher gekommen, als Silvan plötzlich stehen bleibt. Die anderen schliessen auf. Er weist mit der Hand nach unten.

Sie stehen vor einem Abhang. Unter ihnen erstreckt sich eine Wiese, auf der sich ein Rudel Hunde tummelt. Die Tiere streiten sich um etwas.

"Wölfe", sagt Klaus leise.

"Woher weisst du, dass das Wölfe sind?" flüstert Leonie verärgert. Die Vorstellung, dass es sich einfach um grosse Hunde handelt, ist ihr bedeutend lieber.

Klaus zögert. "Ich bin mir nicht sicher. Es könnten auch Schäferhunde sein. Ist ja eigentlich egal. Jedenfalls ist das ziemlich krass, was die da tun."

Jetzt erst wird Leonie klar, was da unten passiert.

"Igitt", kommt ihr Rosie zuvor. "Die fressen etwas, ein anderes Tier."

Fasziniert und schweigend schauen die fünf nach unten. Leonie bemerkt, wie sie und ihre Kameraden unbewusst näher zusammenrücken. Es sind sechs Wölfe oder Hunde, welche offenbar ein Tier mit braunem Fell gerissen haben. Was es genau war, kann Leonie nicht erkennen. Möglicherweise ein Reh. Zahm sind sie offensichtlich nicht, und es sind auch keine Menschen in Sicht.

Ein Schaudern wie eine Herde Nadelspitzen läuft über Leonies Rücken.

Eines der Tiere blickt in ihre Richtung. Es sieht nachdenklich aus, als würde es überlegen, ob diese seltsamen Wesen über ihm als nächste Mahlzeit taugen könnten. Es duckt sich und macht langsam ein paar Schritte auf die Leute zu.

"Ich glaube, dass uns einer der Hunde gesehen hat", sagt Leonie.

"Kommt, verschwinden wir von hier." Silvan spricht Leonie aus dem Herzen.

Sie drehen sich ab, als das Tier, das sich ihnen genähert hat, ein seltsam klagendes Bellen ausstösst. Wie elektrisiert beginnen sie zu rennen und sie hören, wie auch die anderen Tiere das Bellen aufnehmen.

Sie nehmen den gleichen Weg, den sie gekommen sind, überspringen Hindernisse und preschen durch das Gebüsch. Alle Anzeichen von Müdigkeit sind verschwunden.

Leonies linker Fuss stösst gegen etwas, das im Gestrüpp verborgen war. Sie fällt hin und ihr Kopf schlägt gegen etwas Hartes.

Benommen erblickt sie einen fetten, schwarzen Käfer, der nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase langsam über ein verrostetes Stück Metall krabbelt. Sein Panzer glitzert im Sonnenlicht.

Jemand zieht an ihrem Rucksack und hilft ihr auf. Leonie blickt zurück und sieht Jenna. 

"Lauf, verdammt noch mal." Jenna stösst Leonie in den Rücken. 

Leonie beginnt zu rennen und hört Jennas Schritte hinter sich.


Sie erreichen das Plateau, von dem aus man die Stadt überblicken kann und von wo sie das erste Mal das Bellen gehört haben. Silvan hält an und blickt zurück.

Alles ist ruhig, nur das Geräusch ihrer schnellen Atemzüge ist zu hören.

„Glaubst du, dass wir sie abgehängt haben?" fragt Klaus.

Silvan zuckt mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass sie uns gefolgt sind."

"Woher weisst du das?" Rosies Worte sind laut. "Das sind Wölfe, verdammt nochmal! Wilde Tiere. Was machen wir, wenn die angreifen?"

Klaus legt einen Arm um ihre Schulter. "Wir sind zusammen. Die greifen keine Menschen an, wenn sie in der Gruppe sind."

Sie stösst ihn weg. "Natürlich, Herr Oberschlau." Ihr Gesicht ist gerötet. "Wenn du schon so schlau bist, dann erzähl uns doch, wie wir aus diesem Scheissloch hier weg kommen."

Er öffnet seinen Mund, dann schliesst er ihn wieder und zuckt mit den Schultern. "Es tut mir leid, Rosie, ich weiss es nicht."

Ja, wir wissen nichts. Leonie nickt. Sie schliesst ihre Augen und hofft, dass diese hässliche, zerbrochene Welt verschwindet.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now