Schüsse und schwarzes Blut

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Anna und Leonie bleiben wie festgefroren stehen, ihre Blicke auf Jan und Robert gerichtet.

„Was soll das?" Jans Stimme klingt hart und laut. Er steht rund fünfzig Schritte von ihnen entfernt, auf der anderen Seite der Halle. Langsam kommt er auf sie zu. Seine Hand geht zu seiner Brust, und Leonie erkennt den Pistolengurt, den er sich umgeschnallt hat.

„Komm!" Ohne nachzudenken packt Leonie Annas Arm und zieht sie durch den geöffneten Torspalt. 

Draussen scheint der Mond und badet die Welt in gespenstischem Licht. Leonie lässt Annas Arm los und betritt den Weg Richtung Dorf. Anna zögert.

„Kommst du?", zischt Leonie.

Anna blickt zum Tor, dann zu Leonie. Das Geräusch von Schritten dringt aus dem Bunker. 

Schliesslich nickt Anna. 

Leonie rennt los. Sie hört Anna hinter sich.

„Anna!", ruft Jan. 

Leonie schaut ohne anzuhalten zurück. Anna folgt ihr in einigen Schritten Abstand.

Ein Schuss kracht und eine Kugel zischt an ihr vorbei.

„In den Wald!", zischt sie und biegt nach links ab. Sie tritt in den Schatten der Bäume ein. Es ertönt ein zweiter Schuss, und Anna schreit auf. Leonie blickt zurück und sieht für einen Moment lang Annas schwarze Silhouette, welche in das Gebüsch am Waldrand fällt.

"Anna!" Leonie rennt zurück zur Stelle, wo sie Anna fallen sah. Sie findet Anna niedergekauert im Gestrüpp, keuchend.

"Bist du verletzt?"

"Mein Arm."  Anna hält die rechte Hand an ihren linken Oberarm.

Vom Pfad her hört Leonie die Schritte von Jan und Robert. Sie blickt auf. Die zwei werden sie in wenigen Augenblicken erreichen.

Leonie ergreift Anna an ihrem gesunden Arm und zieht sie hoch. Anna stöhnt auf.

"Komm." Sie führt Anna in das Dunkel zwischen den Bäumen.

Der Lärm zweier weiterer Schüsse zerreisst die Nacht. Unwillkürlich hält Leonie inne und wartet auf den Schmerz oder einen Schrei Annas. Aber nichts passiert. 

Sie reisst sich aus ihrer Starre und bewegt sie sich weiter. Ihre Linke krallt sich immer noch in Annas Arm.

Der schwere Schatten des Waldes umgibt sie. Leonie begrüsst seinen Schutz.

Als der Waldrand nur noch ein dünnes, helles Band ist, bleibt sie wieder stehen. „Geht's?", fragt sie in die Dunkelheit.

„Ja." Annas Antwort ist ein Flüstern durch zusammengebissene Zähne, ihr Schmerz darin deutlich hörbar.

Vom Waldrand her hört Leonie die Stimmen ihrer Verfolger. Sie sieht sie aber nicht.

Sie hasten weiter. Das Unterholz ist dicht und der Boden uneben und mit morschem Holz übersäht. Äste und Zweige greifen im Dunkeln nach ihr und verfangen sich immer wieder in ihren Haaren und Kleidern.

Annas Keuchen wird immer lauter. Sonst ist alles still.

Leonie hält an. „Kannst du weitergehen?" fragt sie Anna.

„Ja, ich denke schon."

Leonie erinnert sich an die Taschenlampe, welche Anna bei sich trug. „Hast du die Taschenlampe noch?"

„Nein..." Anna zögert. „Ich muss sie fallengelassen haben... als er mich angeschossen hat."

Leonie tastet nach Annas linkem Oberarm. Ihr Ärmel ist durchnässt. Blut. Anna weicht der Berührung aus.

„Wie stark blutet es?"

„Es geht...".

Was immer das heisst, denkt sich Leonie. „Komm, lass uns weitergehen", sagt sie. Sie legt ihre Hand auf Annas Rücken und führt sie talabwärts, den Mond als Orientierungshilfe nutzend.

Anna bewegt sich zögernd. Sie stolpert immer wieder.


Leonie erinnert sich an das letzte Mal, als sie mit Anna im Wald unterwegs war. Da war Anna ihre Gefangene. Schon damals, im Licht des Tages, fiel es ihr schwer, sich durch freies Gelände zu bewegen. Und jetzt ist sie verletzt, und es ist dunkel.


Irgendwann – Leonie hat das Gefühl für die Zeit verloren – erreichen sie eine kleine Lichtung, eine Insel der Silbertöne gebadet im hellem Licht des Mondes.

Sie wendet sich Anna zu. "Zeig mal."

Nur zögerlich nimmt Anna ihre rechte Hand von der verletzten Stelle. Ein Streifschuss – die Kugel hat eine Bahn durch ihren Muskel gerissen, offenbar ohne stecken zu bleiben. Die Wunde ist tief und blutet immer noch. Das Blut auf ihren Arm ist nachtschwarz.

Wie viel Blut kann ein Mensch verlieren? 

„Habt ihr einen Arzt?" sagt sie laut.

„Ja, Robert."

Der Mann mit dem Mundgeruch, der ihr das Essen gebracht hat, und der sie vorhin mit Jan zusammen verfolgt hat. 

Toll.

„Wird er dir helfen?"

Anna holt tief Luft. „Ich weiss nicht. Wahrscheinlich."

Leonie legt die Hand auf Annas Rücken und spürt, wie sie zittert.

„Du solltest umkehren." Leonie hasst diese Worte, die Wahrheit, die sie aussprechen. „Du brauchst Hilfe. Ich kann dich zurückbringen."

Einen Moment ist Anna still, dann schüttelt sie den Kopf. „Nein!" Ihre Stimme ist leise.

„Bist du sicher? Deine Wunde muss versorgt werden."

„Ja, ich bin sicher. Ich kann nicht zurück." Ihre Stimme ist immer noch ein Flüstern, aber fester. „Und ich will nicht zurück."

Die Tränen auf Annas Wangen glitzern im Mondlicht.

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