Richter und Scharfrichter

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Den nächsten Morgen verbringt Leonie wieder einmal versteckt im Gebüsch am Waldrand, beim Pfad, der vom Bunker ins Dorf führt. Sie hofft, dass dies das letzte Mal ist, dass sie sich hier verbergen muss.

Die Armbrust liegt von ihr, auf einem Felsen abgestützt. Sie ist geladen und bereit. Leonie erinnert sich an einen früheren Nationalheld dieser Gegend und muss grinsen.

Klaus bewegt sich unruhig an ihrer Seite und schaut nervös in Richtung Bunker. Ein Bogen und Pfeile liegen neben ihm am Boden.

„Bewegt sich was?", fragt Leonie.

„Nee", antwortet er.

Rosie und Anna warten auf der anderen Seite eines kleinen Hügels hinter ihnen. Sie haben beschlossen, dass Leonie und Klaus schiessen und dann abhauen, um sich danach mit ihren Freunden zu treffen.

Noch einmal prüft Leonie den empfindlichen Draht, der als Sehne der Armbrust dient. Er ist ganz frisch, und sie hofft, dass er hält. Sie legt die Waffe gegen ihre Schulter und zielt. Vor ihrem inneren Auge stellt sich vor, wie sie Jan sieht und den Auslöser betätigt und wie der Bolzen sein Ziel findet.

Dieses Bild ist seltsam unwirklich und die Zeit scheint anzuhalten.

Bin ich das wirklich? Die Frau, welche diese Waffe hält und sich solche Bilder ausmalt? Bilder von mir, wie ich jemanden töte? Was gibt mir das Recht, Richter und Scharfrichter zu sein? Wenn die Tat, die ich plane, vielleicht schlimmer als alle Verbrechen ist, die ich Jan vorwerfe?

Sie realisiert, dass sie den Atem angehalten hat. Als sie die Luft langsam aus den Lungen entweichen lässt, dringt ein vertrautes Pfeifen an ihr Ohr.

„Drohne!" Klaus' geflüstertes Wort reisst Leonie zurück in die Realität. „Abhauen!"

Sie greift sich ihre Waffe und beide rennen in Richtung des Hügels hinter ihnen. Sie erreichen dessen höchsten Punkt, verstecken sich hinter einer Erdkuppe und blicken zurück. Leonie sieht die Maschine. Sie schwebt nahe an der Stelle, wo sie gerade noch waren.

„Glaubst du, dass die Kamera uns sehen kann?", fragt Leonie.

„Wahrscheinlich nicht, solange wir uns hier verborgen halten", antwortet Klaus. „Du kannst einen Menschen nicht durch Erdreich und Steine sehen, auch nicht im Infrarot."

Die Drohne fliegt langsam weiter, dem Pfad zum Dorf folgend. Kurz darauf erscheinen zwei Figuren. Robert und Adam, die beiden Bodyguards von Jan.

„Jan ist nicht bei ihnen", sagt Leonie. „Er steuert wahrscheinlich die Drohne, vom Bunker aus."

„Feigling", bemerkt Klaus.

„Lass uns zurückkehren."

Auf dem Weg zu den anderen beschliesst Leonie, dass sie zuerst einmal die Drohne loswerden müssen.


Am nächsten Tag beobachtet Leonie das Feuer, das Klaus vor einem Holzhaus entfacht hat. Eine Rauchfahne steigt in den klaren Himmel. Man kann sie zweifellos von Weitem sehen.

Wieder liegt sie auf der Lauer, diesmal in einem alten Dorf, etwa ein oder zwei Kilometer vom Bunker entfernt. Sie befindet sich in der Ruine eines Gebäudes etwas oberhalb des Holzhauses. Klaus, Anna und Rosie verstecken sich einige Häuser bergaufwärts, entlang einer überwucherten Gasse, in einer Art Garage mit einem massiven Keller.

Sie wartet darauf, dass die Drohne kommt, um den Rauch zu untersuchen. Ihre Armbrust liegt schussbereit vor ihr. Sie ist des Wartens müde. Klaus hat das Feuer bei Sonnenaufgang entfacht, und jetzt steht die Sonne schon hoch am Himmel.

Frustriert macht sie sich daran, die Waffe zurückzuziehen, als sie das bekannte Geräusch hört. Schnell legt sie den Griff der Armbrust wieder gegen ihre Schulter.

Sie sieht die glitzernde Drohne zu ihrer Rechten. Das Gerät schwebt die Gasse zwischen den Häusern entlang auf das Feuer zu. Sie kommt langsam voran und schwenkt immer wieder nach rechts und links. Offenbar versucht Jan, die ganze Umgebung mit der Kamera zu erfassen. Dann stoppt das Gerät, unmittelbar in der Gasse vor Leonie.

Sie zielt und hält die Luft an. Dann betätigt sie den Abzug. Aber in dem Moment, als sie den Rückstoss der Waffe fühlt, hat sich die Drohne wieder in Bewegung gesetzt. Der Bolzen schiesst einige Zentimeter hinter seinem Ziel vorbei.

Sie beobachtet die Bewegung der Maschine, ohne sich zu rühren. Jan ist sich offenbar des Angriffs, der die Drohne fast zerstört hat, nicht bewusst.

Schnell lädt Leonie die Armbrust wieder und zielt nochmals.

Die Drohne fliegt bedächtig auf das Feuer zu, aber jede Sekunde vergrössert den Abstand zwischen ihnen. Leonie zielt und zieht ab.

Mit einem metallischen Klang trifft der Bolzen auf sein Ziel. Das Gerät dreht sich in der Luft und sein Surren wird zu einem Kreischen, einem seltsam klagenden, animalischen Geräusch für eine Maschine. Sie fällt, schlägt auf einer Betontreppe auf, dreht sich nochmals und bleibt liegen. Das kreischende Geräusch endet.

Leonie starrt auf ihr Opfer und traut der plötzlichen Stille in der Gasse nicht.

Sie wartet einige Sekunden. Als nichts weiter passiert, lädt sie die Armbrust noch einmal. In Gedanken fleht sie den Draht an, nicht zu reissen. Dann rennt sie eine Treppe runter und auf die Strasse.

Vorsichtig nähert sie sich der Maschine. Der Bolzen steckt in einem Riss, der sich über den Rumpf der Drohne erstreckt. Das Gerät liegt auf seinem Rücken und die Kamera ist gut sichtbar. Die Linse ist zerbrochen. Feine Risse geben ihr eine fast milchweisse Farbe.

Leonie fühlt, wie sie sich entspannt.

Sie bückt sich, um sich das Gerät genauer anzuschauen. Sie sieht ein Gebilde, das wie eine Handgranate aus einem Film aussieht. Ein eierförmiger Körper mit einem gebogenen Hebel. Der Körper wird in einer Art Klaue gehalten. Sie nähert sich vorsichtig und sieht einen Sicherungsstift, an dessen Ende ein Ring angeordnet ist. Ein kurzer Draht ist durch den Ring geschlauft und mit der Drohne verbunden.

Die Konstruktion sieht simpel aus. Wenn sich die Klaue öffnet, fällt die Granate nach unten. Der Stift wird herausgezogen, der Hebel schwenkt nach aussen und die Granate wird scharf gemacht. Wahrscheinlich explodiert sie, wenn sie auf dem Boden auftrifft, oder einfach nach einigen Sekunden.

Leonie ist versucht, das Ding aus der Klaue zu ziehen, aber wahrscheinlich wäre das keine gute Idee.

Sie studiert immer noch die Granate und erinnert sich an die verheerenden Explosionen, die das kleine Ding bewirken kann, als sie hinter sich Schritte hört.

Sie dreht sich um, in der Erwartung, ihre Freunde zu sehen. Und sie sieht sie. Aber sie sind umgeben von Leuten aus dem Bunker, welche ihre Speere gegen sie richten. Emma steht ein wenig daneben und zielt mit ihrer Pistole auf Leonie.

„Leg deine Waffe nieder!", sagt Emma. Ihre Stimme ist hart und ihr Gesicht sieht entschlossen aus.

Robert, der Arzt mit der Monobraue, stellt ein schmutziges Grinsen zur Schau. Sein Freund Adam steht neben ihm, sein Gesicht ausdruckslos. Annas gelockter Bruder blickt Anna an und runzelt seine Stirn. Den Rest der Leute kennt Leonie nicht beim Namen.

„Wo ist Jan?", fragt sie, ihren Blick wieder auf Emma gerichtet. Sie weiss nicht wirklich, wieso sie nach ihm fragt, aber sie hat keine Lust, ihre Waffe wortlos aufzugeben.

„Er wird bald zu uns stossen", antwortet Emma. Dann studiert sie die traurigen Reste der Drohne vor Leonies Füssen. „Und er wird sehr unglücklich sein, das kann ich dir versprechen. Und jetzt. Lege. Deine. Waffe. Nieder!"

Welt der RuinenΌπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα