Ein Hase und Pläne

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Als Leonie ihre Augen wieder öffnet, sieht alles unverändert aus. Der Fluss vor ihr fliesst friedlich, neben sich hört sie Rosies regelmässigen Atem. Die Sonne scheint warm, und Leonie lässt sich mit dem richtig Aufwachen Zeit.

Zwischen ihr und dem Fluss liegt eine kleine Wiese, auf welcher ein paar Blumen im leichten Wind schaukeln.

Und mitten auf dieser Wiese sitzt, intensiv mit Fressen beschäftigt, ein Hase. 

Niedlich.

Leonie kommt ein Gedanke – kein niedlicher Gedanke, sondern ein blutrünstiger. Ganz langsam ergreift sie den Schürhaken, den sie vor dem Einschlafen neben sich gelegt hat.

Aber das Tier sieht zum Knuddeln aus, unschuldig. Leonies Hand an ihrer Waffe entspannt sich langsam.

Der Hunger bohrt in ihren Eingeweiden. Und den anderen geht es sicher genau so. Jenna wäre zwar schockiert, aber Rosie und die Jungs würden es ihr danken. Sie greift den Schürhaken wieder fester.

Der Hase hat einen Löwenzahn entdeckt und bemerkt nicht, wie Leonie sich langsam erhebt. Sie macht einen Schritt auf das Tier zu, das weiter mit Fressen beschäftigt ist. Dann einen Zweiten. Der Hase blickt auf. Leonie steht stockstill.

Plötzlich dreht er sich um und blickt Leonie aus kleinen, dunklen Augen an. Dann ergreift er die Flucht. Sie setzt sich in Bewegung. Mistvieh, denkt sie sich, als sie realisiert, wie schnell ein Hase rennen kann. Das Tier verschwindet durch eine dunkle Türöffnung in einem erstaunlich intakten, kleinen Gebäude am Ufer. Leonie folgt ihm.

Sie betritt einen feuchten Raum, der auf einer Seite zum Fluss hin offen ist. Das Plätschern der Wellen ist zu hören. Ein Bootshaus? Leonies Augen durchsuchen das Halbdunkel. Aus den Augenwinkeln sieht sie eine Bewegung. Der Hase versucht, durch die Türöffnung zu entwischen.

Leonie schwingt den Schürhaken und schlägt zu. Das Tier schreit, erbärmlich. Ein zweiter Schlag, und alles wird still.

"Was ist denn hier los?" Rosie steht am Eingang und schaut ins Halbdunkel.

Leonie starrt auf ihr Opfer, das bewegungslos am Boden liegt. Sie merkt, dass sie am ganzen Leib zittert. "Abendessen", sagt sie schliesslich mit einer etwas zu hohen Stimme und weist mit ihrer Waffe auf das Tier. Sie weiss nicht, ob sie grinsen oder weinen soll.

Das Pochen ihres Herzens sitzt in ihrem Hals. Eine Gruppe von Mücken tanzt im kristallklaren Licht, das durch den Eingang strömt. Der Geruch von Fisch und Wasserpflanzen liegt reich und schwer in der Luft. Das Eisen in ihrer Hand ist kalt und hart.

Tod und Leben.


Am Abend sind Leonie, Klaus und Rosie zurück im Lager. Rosie hat den Hasen mit steinernem Gesicht gehäutet, ausgenommen und zerlegt. Beim Gedanken an die Prozedur zieht sich Leonie jetzt noch der Magen zusammen. Rosie hat gesagt, dass sie es bei ihrer Grossmutter gesehen habe.

Jetzt dümpeln die Überreste des Tiers harmlos und friedlich im Topf über dem Feuer und kochen langsam.

"Hey!"

Der Ruf lenkt Leonies Blick zum Eingang. Silvan und Jenna stehen dort, im Licht der Abendsonne. Leonie ist erleichtert sie zu sehen.

Beide legen ihr Gepäck ab. "Schaut, was wir euch gebracht haben." Silvan öffnet seinen Rucksack und reicht jedem einen Apfel. "Wir haben sicher hundert davon."

Leonie blickt Silvan mit einem Grinsen an. "Danke, grosser Sammler."

Er ist sichtlich irritiert und blickt mit fragendem Gesichtsausdruck zurück.

"Während ihr gesammelt habt, haben die Krieger gejagt." Mit ausgestrecktem Arm weist Leonie auf den Topf mit den darin schwimmenden Fleischstücken.

Silvan kommt näher und äugt ins siedende Wasser. "Ich glaub's nicht", sagt er.


Das Abendessen ist herrlich. Etwas fade vielleicht, aber Leonie würde das nie laut sagen. Und bekanntlich ist Hunger der beste Koch.

Danach sitzen sie um das Feuer, in der Jahrtausende alten Tradition aller Jäger und Sammler. Leonie weiss, dass sie heute die Mägen ihrer Freunde gefüllt hat. Sie trägt ihren Stolz wie eine Krone.

Silvan unterbricht Leonies Gedanke. "Wir haben nachgedacht." Er blickt lächelnd zu Jenna, die neben ihm sitzt und sein Lächeln kurz erwidert.

Was soll dieser Blick?

Leonie betrachtet die zwei misstrauisch.

"Wir denken, dass wir nicht hier bleiben sollten", fährt Silvan fort. "In der Stadt, meine ich. Hier gibt es wenig zu essen ... gut, es gibt Hasen." Er weist mit einem abgenagten Schenkelknochen auf den leergegessen Topf, "doch die gibt es sicher auch ausserhalb der Stadt. Aber in der Stadt gibt es kaum Obstbäume, Beeren oder andere essbare Pflanzen. Wir müssen einen anderen Ort finden, an dem es mehr zum Essen gibt. Jenna?" Auffordernd blickt Silvan Jenna an.

Wieder so ein Blick.

"Wisst ihr... ", Jenna zögert. "Wir sind hier ja am westlichen Ende des Sees. Das Nordrufer war früher bekannt als Anbaugebiet. Für Trauben... und Obst. Dank dem Sonnenlicht, das vom See reflektiert wird, ist das Klima dort sehr warm... sehr fruchtbar. Wir sollten uns das ansehen. Wir brauchen vielleicht ein oder zwei Tage, um da hinzukommen. Dort ist es sicher einfacher, etwas zu essen zu finden."

Leonie irritiert der Gedanke, die Stadt zu verlassen. "Wir haben heute hier ein Gebäude mit Metallwaren gefunden", sagt sie. "Messer, Töpfe, Gefässe. Vieles noch brauchbar. Es hat auch Beeren. Wir können nicht einfach aus der Stadt weg. Hier gibt es so vieles, das nützlich sein könnte." Dann kommt ihr noch ein anderer Gedanke. „Und was ist mit anderen Menschen? Ich meine, wir haben noch nicht versucht, andere Leute zu finden. Es muss doch irgendwo andere Menschen geben." Leonie blickt Rosie und Klaus an, in der Hoffnung, dort Unterstützung für die Idee zu finden.

Klaus zuckt mit den Schultern. „Ja, es wäre gut, andere Leute zu finden. Aber wenn es welche hier in der Stadt gäbe, dann hätten wir doch ihre Spuren sehen müssen. Und wo sonst sollen wir hingehen, um Menschen zu finden? Wir haben keine Ahnung, wo sie sein könnten. Ich glaube, die Idee von Silvan und Jenna ist gut. Gehen wir dorthin, wo es Essen gibt. Ich glaube, dass das auch der beste Ort ist, um nach Menschen zu suchen. Nicht?"

Er schaut Leonie an, während Rosie an seiner Seite mit dem Kopf nickt. Klingt vernünftig, wie das meiste, was von Klaus kommt, denkt sich Leonie. Aber dennoch, sie mag diesen Ort. Sie beginnt gerade, sich hier wohlzufühlen.

Silvans Augen sind auf Leonie gerichtet. "Wir brauchen auch nicht gleich zu gehen." Offenbar hat er gemerkt, dass sie die einzige ist, die noch nicht vom Plan überzeugt ist. „Wir können noch etwas hierbleiben. Schauen, was wir noch finden. Doch dann sollten wir zum Nordufer gehen."

"Und es gibt... es gab andere Städte am Nordufer des Sees", fügt Jenna hinzu. "Wir können auch dort brauchbare Dinge finden."

Silvan nickt zustimmend.

Widerstand ist offenbar zwecklos, denkt sich Leonie, und betrachtet Silvan, dann Jenna, die sich plötzlich so gut verstehen. Sie hätte die beiden heute wohl besser begleitet.    


Welt der RuinenWhere stories live. Discover now