Der erste Tag

4K 172 12
                                    

Nachdenken ist eine exzellente Idee.
'3000 Jahre? Und ich war stolz wegen 20... Oh je, da kommt ja noch einiges auf mich zu! Werden Elben immer so alt? Und sind sie dann deswegen so... komisch ernst und ruhig? Weil sie schon alles kennen? Und wie werde ich das jemals schaffen so alt zu werden?'
Diese und andere Fragen schwirren mir im Kopf herum und ich habe das Gefühl, es sei zu viel für einen Tag. Dabei ist es gerade mal Mittag.
Plötzlich fängt mein Magen an zu knurren und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Nach kurzem Zögern beschließe ich zum Speisesaal zu gehen und zu schauen, ob ich noch etwas zu essen finden kann. Ansonsten statte ich der Küche mal einen Besuch ab. Kurzerhand öffne ich die Tür und mache mich auf den Weg. Aber dieses Mal versuche ich, mich genauso zu verhalten wie die anderen Elben: ruhig, gefasst und ohne Eile, aber freundlich und offen. Allerdings merke ich schon nach wenigen Begegnungen mit anderen Elben, dass mir das nicht ganz so gut gelingen will.
Schließlich erreiche ich den Speisesaal und sehe mich um, denn als ich das letzte Mal heute morgen hier war, hat Gerondiel mich ja sofort zu Elrond gebracht. Dafür bin ich ihm zwar dankbar, aber Hunger habe ich trotzdem. Und ich habe Glück: für einige der Spätaufsteher gibt es ein spätes Frühstück und damit eine Möglichkeit, sich auch jetzt noch etwas zu Essen zu holen. Nachdem ich mich an dem Buffet bedient habe, setze ich mich an den Tisch und beginne zu essen. Auch dabei achte ich darauf, möglichst elbenhaft auszusehen.
"Na, das musst du aber nochmal üben", sagt eine melodische Stimme freundlich hinter mir und ich drehe mich überrascht um. Vor mir steht Arwen, die Elbin, die Elrond vor unserem Gespräch nach draußen geschickt hat. Ihr Haar ist dunkelbraun, ihr rundes, blasses Gesicht mit den roten Lippen und leicht geröteten Wangen schaut mich lächelnd an und ihre blauen Augen blitzen fröhlich. Sie trägt ein orangenes Kleid mit an den Enden weiteren Ärmeln.
"Hm, ja, ich denke schon", erwidere ich stotternd und merke, wie ich rot werde. Sie lacht und setzt sich neben mich.
"Das ist nicht schlimm, die prägenden Jahre hast du ja noch vor dir", meint sie gutmütig lächelnd. Ich lächle zurück.
"Tut mir leid, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Jedwiga und du bist Arwen, oder?"
"Ja, genau. Ich bin die Tochter von Elrond. Arwen Abendstern werde ich auch genannt."
"Oh."
"Ist das schlimm?"
"Nein, nein, ich weiß nur nicht wie ich mich verhalten-"
"Keine Sorge, das ist mir völlig egal. Du kannst mich einfach Arwen nennen."
Dankbar lächle ich sie an.
"Soll ich dich vielleicht ein wenig herumführen?", schlägt sie mir mit vor Aufregung leuchtenden Augen vor und ich nicke eifrig.
"Gerne, danke!"
"Dann komm mit!"
Sie lacht und ich folge ihr aus dem Saal hinaus.
"Sag mal, Arwen..."
"Ja?"
"Wie kommt es, dass du so überschwänglich bist und die anderen Elben so... du weißt schon."
Sie grinst und winkt ab.
"Ach das. Ich bin einfach noch nicht so alt. Ausserdem kenne ich noch keine Gründe für ein solches Verhalten."
Ich lache nun auch und lasse mich von Arwens Fröhlichkeit anstecken. Es tut gut, jemanden gefunden zu haben, die sich auch so 'unreif' verhält wie ich mich manchmal aufführe. Mit ihr macht es richtig Spaß und ich lerne unglaublich viel während wir durch Bruchtals Winkel und Räume laufen. Ich mag sie jetzt schon, obwohl ich sie noch nicht lange kenne.
Zusammen laufen wir durch die Gänge und hinaus in die Umgebung. Als wir in die Bibliothek kommen, bleibe ich erstaunt stehen. Bücherregale ragen vom Boden bis zur Decke, ein paar Elben laufen herum und sortieren Bücher, an Tischen sitzen Gelehrte inmitten von aufgeschlagenen Pergamenten und grübeln über die Probleme der Welt. Die Bibliothek ist wunderschön, luftig, hell und gemütlich.
"Was ist, noch nie Bücher gesehen?", fragt sie mich neckisch.
"Doch", hauche ich und schaue mich um. "Aber noch nie so viele auf einmal."
"Naja, diese Bibliothek ist sogar gar nicht so groß, die in Gondors Hauptstadt Minas Tirith ist viel größer. Kannst du überhaupt lesen?"
Ich wirbele schnell herum und schaue sie leicht entrüstet an.
"Aber natürlich!"
"Huch, Verzeihung. Es war doch nur eine Frage. Hätte ja sein können."
Arwen lacht und ich entspanne mich wieder. Plötzlich unterbricht uns eine Stimme.
"Frau Arwen, euer Vater möchte euch sprechen."
Ein Elb steht hinter uns und Arwen nickt ihm höflich zu.
"Ich komme gleich", antwortet sie, der Elb zieht sich mit respektvoll geneigtem Kopf zurück, zu mir gewandt sagt sie:
"Tut mir leid, aber die Pflicht ruft."
Sie lächelt mir zu, strafft die Schultern und fragt dann:
"Du findest alleine zurecht?"
Eifrig nicke ich.
"Gut, dann bis später."
Sie dreht sich herum und geht mit schnellen, eleganten Schritten zur Tür hinaus und verschwindet nach links. Nun schaue ich wieder zu den Büchern und grinse. Ich habe eine neue Freundin, mein erstes Gespräch mit Elrond überstanden, etwas zu essen und die Bibliothek gefunden! Mein erster Tag in Bruchtal lief gar nicht mal so schlecht.
Leise summend gehe ich zu dem nächsten Bücherregal und betrachte die Titel der Bücher, bis ich eins über die Geschichte der Elben finde. Neugierig hole ich es heraus, schlage es auf und beginne zu lesen. Doch bereits nach kurzer Zeit läutet eine Glocke und ich spreche einen der Elben hier an, um zu fragen, was das zu bedeuten hat.
"Es gibt jetzt Abendessen", erklärt dieser mir freundlich.
"Ähm, kann ich eigentlich ein Buch ausleihen und mit auf mein Zimmer nehmen?", frage ich ihn und zeige auf mein Buch.
"Natürlich, ich trage euch dann kurz in ein Verzeichnis ein, damit wir wissen, wo das Buch sich befindet."
Er fragt nach meinem Namen, trägt ihn mit dem Titel des Buches zusammen ein und dann darf ich gehen. Ich bringe kurz mein Buch in mein Zimmer und begebe mich danach zum Speisesaal. Dort bleibe ich erstmal überrascht im Türrahmen stehen: Dutzende von Elben befinden sich im Raum, darunter auch einige Menschen, und reden freundlich miteinander. Glockenähnliches Lachen ist zu hören und es herrscht eine fröhliche Stimmung im Saal. Ich fühle mich ein wenig fehl am Platz und gehe nur zögernd in den Raum hinein. So viele Personen bin ich einfach nicht gewohnt. Aufmerksam schaue ich mich um, aber ich entdecke niemanden den ich kenne. Doch da spricht mich ein junger Elb mit langen, rötlichen Haaren an.
"Verzeihung, ihr seid doch die Elbe, die bei Menschen aufgewachsen ist, oder?"
Er blickt mich freundlich aus dunkelbraunen Augen an und ich nicke.
"Ja, die bin ich. Mein Name ist Jedwiga, und ihr seid?"
"Ich bin Heriol, mein Vater ist Ferlion, ein Mensch."
Er deutet auf einen Mann mit dunkelbraunen Haaren der mit einem schwarzhaarigen Elben spricht.
"Dann ist eure Mutter also eine Elbe?"
"Ja, sie kann heute leider nicht hier sein, sie ist zu Hause, denn sie wird bald ein Kind bekommen."
"Verzeiht die Frage, aber wie alt seid ihr?", frage ich ihn neugierig und er mustert mich ein wenig überrascht.
"300, wieso?"
'Sogar er ist älter als ich.' Und Ferlion ist dann wahrscheinlich sein Stiefvater.
"Ach, nicht so wichtig", winke ich ab, da kommt Arwen zu uns. Sofort senkt Heriol ehrerbietig den Kopf und schaut mich perplex an, als ich es nicht tue sondern Arwen lächelnd begrüße.
"Guten Abend, Arwen."
"Guten Abend. Wie ich sehe hast du also den Weg hierher gefunden."
Sie lacht fröhlich und ich falle mit ein.
"Ja, sogar ganz alleine", erzähle ich stolz und grinse. Heriol hebt den Kopf und sieht ein wenig gekränkt aus.
"Willst du mir nicht den jungen Herrn hier vorstellen?", fragt mich Arwen.
"Oh, ach ja, ich bitte um Entschuldigung, das ist Heriol, Sohn von Ferlion."
Arwen lacht und stößt mich freundlich in die Seite.
"Schön, dann kommt mit, es gibt jetzt Essen."
Sie hakt sich bei mir unter und zieht mich zum Tisch. Heriol folgt uns und wir alle nehmen am Tisch Platz und beginnen unser Mahl lachend und redend. Einen schöneren Ausklang dieses Tages könnte ich mir nicht vorstellen.

Die Geschichte von JedwigaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt