Die Reise nach Bruchtal

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Der Tag ist schön, der Himmel blau und wolkenlos, die Luft ist rein und riecht frisch. In den Büschen am Wegesrand singen die Vögel und auf den Feldern arbeiten einzelne Gestalten, die verblüfft den Kopf heben und mir hinterher schauen, als ich vorbei reite. Ich habe Heras nach einer halben Stunde in einen schnellen Trab verfallen lassen, damit er sich nicht überanstrengt, denn in den letzten Tagen hatte er weniger Wasser als normalerweise. Doch da es ja gestern Nacht so ausgiebig geregnet hat, will ich beim nächsten Bach haltmachen und Heras trinken lassen soviel er will.
Die Sonne scheint wieder mit unbändiger Hitze auf das Land herab, während ich mich immer weiter dem Wald nähere, den ich vom Hof aus gesehen habe. Schließlich verdichtet sich das Blätterdach über meinem Kopf und die willkommene Kühle des Waldes empfängt mich. Erleichtert seufzen Heras und ich im Stillen auf. Nach einer Stunde höre ich das Plätschern eines Baches und kurz darauf gelangen wir an eine kleine Holzbrücke, die über einen munteren, vollen Bach führt. Ich steige vor Heras Rücken und lasse ihn das seichte Ufer hinunter zum Wasser laufen, wo er auch sofort das Maul ins kühle Nass senkt und gierig trinkt. Ich selbst komme ebenfalls zu ihm und schöpfe mit den Händen Wasser, um es zu trinken aber auch um mich ein wenig abzukühlen. Danach erhebe ich mich wieder und schaue mich kurz um.
'Ob es hier Waldelben gibt?', frage ich mich beim Anblick eines riesigen Baumes mit dickem Stamm und breiten Ästen unwillkürlich und lege den Kopf in den Nacken, um bis zur Krone hinaufsehen zu können. Die Sonne blinkt mir zwischen den Blättern entgegen und malt helle Flecken und Muster auf mein Gesicht und den Boden.
Nach ein paar Minuten steige ich wieder auf, lenke Heras durch den Bach und setze meine Reise fort. Zwei Stunden ist es erst her, dass ich meine Familie verlassen habe, und doch fühle ich mich als wären es schon mehrere Wochen. Ich bin noch nie weg von zu Hause gewesen, außer das eine Mal, wo Derian mich mit ins nächste Dorf genommen hat. Damals war ich 16, doch seitdem war ich nicht mehr fort vom Hof. Aber es fühlt sich, zu meiner Überraschung, gut an, mal weg und frei zu sein, wenn man mal von der Traurigkeit des Abschieds absieht. Und irgendwie freue ich mich ja auch auf die Elben, und auf Bruchtal. Manchmal hat Derian ein bisschen von dem elbischen Herrenhaus erzählt, welches dem Halbelben Elrond gehört, doch er wusste nicht viel davon und das was er wusste, waren meist nur Gerüchte oder vage Informationen. Aber nun werde ich mir selbst ein Bild davon machen.
Ein aufgeregtes Kribbeln fährt durch meinen Körper und ich treibe Heras wieder zu einem schnellen Trab an. Nach weiteren drei Stunden hole ich mir etwas zu essen aus der Provianttasche und mache eine Rast. Heras lasse ich auf einer Wiese grasen, während ich mich daneben setze und mein Frühstück nachhole.
'Was Bahel jetzt wohl gerade macht?' Ich denke an meinen kleinen Bruder. Sofort vermisse ich ihn und lenke mich schnell mit etwas anderem ab, ansonsten wäre ich wahrscheinlich auf Heras gesprungen und sofort nach Hause zurückgaloppiert. Also konzentriere ich mich auf die Geräusche und Bewegungen in meiner Umgebung, auf die Vögel und die Eichhörnchen in den Bäumen, die Mäuse und andere Kleintiere auf dem Boden, im Unterholz oder in den Büschen.
Nach weiteren Stunden, in denen ich weitergeritten bin, beginnt die Sonne unterzugehen und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
"Gehe niemals nach draußen wenn es dunkel wird!", hallt mir Derians Warnung, die er mir gab als einmal Orks in der Nähe unseres Hofes gewesen waren, im Kopf und ich suche mir schnell ein Nachtlager am Fuße eines großen Baumes. Heras nehme ich die Taschen ab, lasse ihn aber gesattelt, falls ich schnell in der Nacht weglaufen müsste. Ich suche mir trockenes Holz zusammen, schichte es zu einem Haufen und entzünde ein Lagerfeuer, welches die Kühle der Nacht vertreiben soll. Mir ist klar, dass ich dadurch von weither zu sehen bin, doch momentan weiß ich nicht, wie ich es besser machen soll. Nach einer Kleinigkeit zu Essen und nachdem ich das Feuer habe ein wenig herunterbrennen lassen, klettere ich mit meiner Decke auf den Baum, lehne mich an den Stamm, wickele mich in die Decke und schlafe schnell ein.

Ich wache auf und entdecke einen kleinen Vogel auf meinem Fuß.
"Hallo", flüstere ich, doch da fliegt der Vogel auf einen anderen Ast, schaut mich mit schiefgelegtem Kopf an und beginnt dann ein Lied zu zwitschern. Die Sonne scheint wieder, der Himmel ist noch rosa vom Sonnenaufgang und ein paar vereinzelte Wolken ziehen langsam gen Westen. Mit frischem Mut und neuer Kraft springe ich vom Baum herunter, verstaue meine Decke wieder in der Tasche und nehme ein schnelles Frühstück zu mir. Dann rufe ich Heras zu mir, befestige die Taschen wieder an seinem Sattel und trete ein wenig Erde über die Glut des heruntergebrannten Feuers. Mein Gefühl sagt mir, dass es nun nicht mehr weit ist bis zu meinem Ziel und ich steige auf. Im schnellen Galopp verlasse ich die kleine Lichtung und reite auf dem Weg weiter in Richtung Süden.
Die meiste Zeit des Tages verläuft ruhig und entspannt, gelegentlich denke ich an meine Familie oder mein bevorstehendes Treffen mit meinen ersten, richtigen Elben. Doch zwei Stunden nach Mittag ziehen urplötzlich Wolken über den Himmel und es wird dämmrig. Geistesgegenwärtig ziehe ich meinen Umhang hervor und über mich, da beginnt es auch, zaghaft erst, doch dann immer heftiger zu regnen. Jedoch ist es kein Gewitter und Heras bleibt ganz ruhig, während er nun im Trab durch den nassen Wald läuft. Die Regentropfen prasseln angenehm durch den Stoff meiner Kapuze auf meine Kopfhaut, aber ich werde nicht nass. Lediglich meine Hände, die ja die Zügel halten müssen, sind dem kühlen Regen ausgesetzt. Der Boden unter Heras Hufen wird matschig und jeder Schritt seinerseits ruft ein leises Schmatzen hervor.
Der Regen ist nicht unbedingt schlimm, aber nach einiger Zeit wird er stärker und ich kann den Weg vor mir nur noch verschwommen sehen. Auch tropft mir Wasser von der Kapuze in meine Augen und ich muss ständig blinzeln. Nach mehreren nassen, kalten Stunden sehe ich erste Anzeichen dafür, dass ich einem Haus oder einer Siedlung näherkomme. Nach einer weiteren halben Stunde komme ich an ein Tor, welches sich vor mir öffnet und die Sicht auf einen Platz freigibt, der vom Regen auch schon ganz aufgeweicht ist.
Vorsichtig lasse ich mich von Heras Rücken gleiten und lande mit einem dumpfen Platschen im Schlamm. Ich nehme die Zügel meines Pferdes und führe es unter dem Torbogen hindurch auf die Mitte des Platzes zu. Trotz des strömenden Regens erkenne ich eine wundervolle Ansammlung von Häusern, die mit vielen Balkonen und Terrassen ausgestattet sind und durch Brücken und überdachte Übergänge miteinander verbunden sind. Der ganze Häuserkomplex liegt inmitten eines wunderschönen, grünen und fruchtbaren Tals, ein Fluss fließt in Hörweite vorbei, obwohl man ihn durch den Regen kaum hören kann. Im Sonnenlicht mag das Haus Elronds noch eindrucksvoller und schöner wirken, aber trotz des Regens verliebe ich mich sofort in diesen Anblick und habe das eigenartige Gefühl, endlich zu Hause zu sein. Kaum bin ich auf der Mitte des Platzes angekommen, kommen zwei in Kapuzenumhänge gehüllte Gestalten unter einem Vordach zu mir gelaufen. Unter ihren Kapuzen erkenne ich schmale, blasse Gesichter mit überirdisch schönen Zügen und lebendig blitzenden Augen.
"Wer seid ihr und was wollt ihr?", fragt der linke mich höflich.
"Mein Name ist Jedwiga, und ich wurde von Elrond, Herr über dieses Tal, persönlich eingeladen."
Aufgeregt warte ich die Reaktion der beiden ab und lasse dabei immer wieder meinen Blick über ihre Erscheinung schweifen.
'Elben! Meine ersten richtigen Elben! Und dann auch noch aus Bruchtal!' Die beiden beraten sich leise und dann sagt der Rechte zu mir:
"Folgt mir, ich werde euch den Stall und anschließend euer Zimmer zeigen, wo ihr euch einrichten und ausruhen könnt."
Ich nicke zustimmend und folge dem Elb.
'Bruchtal! Endlich!'

Die Geschichte von JedwigaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt