thirty-second: the knitting-boy

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Es gab eine Sache, die auf meiner Liste von gehassten Gefühlen ganz dicht nach Kontrollverlust kam: Ungewissheit.

Fast hasste ich sie noch mehr, als Kontrollverlust, denn sie war so unberechenbar wie ein wildes Tier, das dir in der Wildnis mit leerem Magen begegnet.

Ungewissheit war wie eine fragile Höhle, die jeden Moment einstürzen konnte. Ein paar Stunden hielt man es in der Höhle aus Steinen und Erde aus, doch man musste extrem aufpassen, dass man nicht aus Versehen einen Stein lostrat und somit unter dem Schutt begraben wurde. Man musste sich diese ganzen Stunden vorsichtig verhalten, konnte kaum einen Finger rühren, da das Gebilde sonst über eine einstürzen würde. Und doch würde sich irgendwann ein Stein lösen und somit das unausweichliche geschehen - das Gebilde würde einstürzen und einen unter all den Zweifeln, Unsicherheiten und Verwirrungen begraben.

Meine fragile Höhle war ein Gespräch, dass ich ein paar Stunden zuvor mit meiner Mutter geführt hatte und es fühlte sich nicht gut an zu wissen, dass deine Mutter unter Umständen nicht ganz so zufrieden mit deiner Wahl deines sozialen Umfelds war, auch wenn ich inzwischen zu alt dafür war, dass sie etwas an meinem sozialen Kontakten hätte ändern können, trotzdem hatte ihre Meinung ein unleugbares Gewicht.

Der Stein, der meine Höhle schließlich zum Einstürzen brachte, war die Tatsache, dass ich Hoseok nach unserem gemeinsamen Abend und der Busfahrt heute Morgen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Ich hatte schon Angst gehabt, dass er es bereute, mir vertraut zu haben und sich jetzt von mir fern hielt. Doch als ich ihm heute nach der Schule geschrieben hatte, war wenigstens diese Angst gelindert worden, indem er mir gebeichtet hatte, dass er sich nach der zweiten Stunde hatte befreien lassen, da es ihm nicht gut gegangen war.

Das war auch der Grund, warum ich jetzt vor einem kleinen Supermarkt hielt und eine Tafel Schokolade und eine kleine Dose Cola kaufte, während durch meine Kopfhörer meine 2010er Playlist drang.

Ich verstaute die Nahrungsmittel auf meinem Gepäckträger und machte mich dann zugegebenermaßen etwas nervös auf den Weg zu Hoseok.

Natürlich hatte ich ihm geschrieben und gefragt, ob es okay war, wenn ich kurz vorbeikam. Einfach weil ich das Gefühl hatte, dass ich die Dinge, die meine Mum angedeutet hatte noch heute klären musste und nicht bis morgen warten konnte, sonst würde ich wahrlich verrückt werden.

Schließlich sperrte ich mein Fahrrad an eine Straßenlaterne und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. Tatsächlich war ich ein wenig überrascht, dass ich mir den Weg zu Hoseok so leicht gemerkt hatte, immerhin war ich nur einmal hier gewesen - heute Morgen.

Als ich schließlich den Klingelknopf gedrückt und einen Schritt von der Tür zurückgetreten war, die Einkäufe in den Händen, begann die Freude sich bemerkbar zu machen und ein Lächeln schlich sich auf meine Züge, auch wenn ich ganz genau wusste, dass ich hier war, um einige nicht ganz so schöne Dinge zu besprechen.

Hinter der Tür ertönte im selben Moment ein lautes Rumpeln und ein paar Sekunden später wurde das Schloss entriegelt. Hoseok stand direkt dahinter. Er trug einen weiten dunklen Hoodie, dessen Kapuze er halb über seine feuchten Haare gezogen hatte (wahrscheinlich war er gerade erst aus der Dusche gekommen), eine schlichte hellgraue Jogginghose, die ihm dennoch ungemein gut stand. Den finalen und zuckersüßen Touch gaben allerdings die Faultier-Socken, die unter dem Saum der Hose hervorlugten.

"Du siehst süß aus", begrüßte ich ihn wahrheitsgemäß und im selben Moment schlich sich ein unbezahlbares Lächeln auf sein ungewöhnlich blasses Gesicht. Kurz standen wir in einer komischen Stille voreinander, musterten den jeweils anderen, dann trat der Rothaarige auf mich zu und schloss mich in eine warme und feste Umarmung.

"Wohlfühl-Outfit", erwiderte er und wies mit einer Hand ins Innere des Hauses, nachdem er sich wieder von mir gelöst hatte.

"Ist manchmal aber auch dringend nötig."

Als ich eintrat, fühlte ich mich komisch. Ich war noch nie ein Freund davon gewesen bei anderen zu Hause zu sein, weil ich mich immer so fühlte, wie als würde ich in ihre privatesten Geheimnisse eindringen, indem ich über die Türschwelle trat. Dieses Gefühl war so schon stark, aber hier war es nochmal intensiver. Es war wie als würde ich in Hoseoks Kopf schauen und all diese Dinge und Informationen an mich reißen, die dort ihren Platz hatten, obwohl er sie nicht mit mir teilen wollten.

Während ich mir die Schuhe von den Füßen streifte, versuchte ich mich dazu zu überredenden, dass das nicht der Wahrheit entsprach und dass ich nur, weil ich bei dem Rothaarigen zu Hause war, nicht Dinge über ihn herausfinden würde, die er nicht teilen wollte - es klappte mittelmäßig.

Wenigstens hatte ich mich nach ein paar Augenblicken so weit, dass ich ihm ohne zu zögern die Treppe hinauf in sein Zimmer folgen konnte.

Es war nicht groß oder zumindest kleiner als meines und fast fühlte ich mich wie als wäre ich gerade mitten in die 90er katapultiert worden (nur das Notebook und das Handy und ein bisschen anderer Technikkram ließ diesen Schein verblassen). Das Erste, was einem aber ins Auge fiel, waren die vielen Platten, die fast schon wie im Museum an der Wand rechts von der Tür hingen und während Hobi die Tür schloss, begutachtete ich seine Sammlung ehrfürchtig.

"Sind meine Lieblingskünstler", erklärte er und trat näher an mich heran. Er strich mit der Fingerkuppe an einer Vinylplatte entlang und lächelte verträumt.

"Bin ein großer Fan davon, dass jetzt wieder mehr Künstler Vinyls verkaufen und nicht nur CDs, ist ästhetischer." Da hatte er recht, auch wenn ich es nicht nachvollziehen konnte, da ich kaum Alben oder CDs besaß. Das einzige Album, dass ich mir mal gekauft hatte, war eines von den Arctic Monkeys und selbst das gammelte jetzt in irgendeiner Kiste herum.

Es war schön zu sehen, dass Hoseok offenbar eine Vorliebe für ältere Künstler und Bands hatte, den neben den Platten von Queen fand sich auch vieles von den Rolling Stones, den Beatles und sogar Prince hing an der Wand. Was allerdings nicht in das Bild passte, war die bunte Platte von Lady Gaga, die sehr zu meiner Überraschung erst 2013 erschienen war. Gut neu war etwas anderes, dennoch stach Artpop heraus.

"Ich bin ein Fan von ihr seit meine Mum sich The Fame gekauft und tagelang nichts anders gehört hat", erklärte er lächelnd und deutete auf das Cover. Ich nickte, verständlich. Zwar war ich kein großer Fan von ihr, aber die Songs, die ich bis jetzt zu hören bekommen hatte, waren immer gut gewesen. 

Ich fuhr damit fort mich umzublicken und erblickte auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch, dass bei genauerem hinsehen Häkel- und Strickanleitungen beinhaltete. Es war verrückt. Je mehr ich Hoseok kennenlernte, desto sympathischer wurde er mir. Jenes kleine Detail machte ihn so menschlich, so schön individuell. Niemals hätte ich erwartet in dem Zimmer eines 19-jährigen Surfers voll mit Platten und Postern ein Buch für Häkel- und Strickanleitungen zu finden. Wahrscheinlich saß er an kalten Wintertagen in sein Bett gekuschelt und fabrizierte Pullis und Mützen. Diese Vorstellung war so zuckersüß, dass ich wirklich aufpassen musste keinen Zuckerschock zu bekommen. Zum Glück bewahrte mich Hoseoks Anwesenheit davor, als ich mich mit einem bewundernden Blick zu ihm umdrehte.

"Du kannst mich ruhig auslachen, dafür dass ich so ein Softie bin und häkle", erwiderte er keine Sekunde später grinsend und lehnte sich gegen die Wand neben seinem Bett. Sein Blick musterte mich prüfend, er schien auf eine Reaktion zu warten und als keine kam, wischte er den Moment mit einer Handbewegung weg.

"Aber du bist ja nicht deswegen hier. Worüber wolltest du mit mir reden?"



Summertime Madness | JiHopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt