64.Jonathan

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In der Nacht war ich erneut durch einen Albtraum geweckt worden. Es waren immer die gleichen Personen, die in einen Streit gerieten, sich erbittert bekämpften, das Schloss und die ewigen Vorwürfe. Mein ehemaliger treuer Begleiter musterte mich argwöhnisch aus kalten, zu Schlitzen geformten Augen und zischte die Worte, die wie Hämmer auf meinen Kopf trommelten: „Jonathan! Wo warst du? Wo zum Teufel warst du, als wir dich am dringendsten brauchten? ... Du hast uns im Stich gelassen! Deinetwegen ist Henry jetzt ..." Ich schreckte hoch. „Henry, nein!" stieß ich hervor, doch antworten konnte mir niemand. 

Schweißgebadet saß ich aufrecht auf meiner Decke, den Wind unangenehm auf meiner bloßen Haut spürend, obwohl es sich nur um eine leichte Brise handelte. Die Sterne waren noch klar zu erkennen und der Mond stand als nächtlicher Begleiter groß und rund am dunklen Himmel. Neben mir vernahm ich Davids ruhigen Atem, er schlief und hatte nichts bemerkt. Vorsichtig richtete ich mich auf, dehnte meine Knie und Arme, wie ich es mir von Zirze abschaute und beschloss ein paar Schritte zu gehen, um meine Gedanken zu verarbeiten. So würde es am besten funktionieren. Also machte ich mich alleine auf den Weg und sprach leise vor mich hin: „Du musst zurückgehen, was wenn dir deine Träume etwas sagen wollen? Ist Henry etwa in Gefahr? Kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?" fragte diese Stimme in meinem Gehirn, die wie ein alter Ego, jemand war der mich voll und ganz verstand, mich beruhigen, aber auch liebevoll schelten konnte. Ohne Zweifel wäre auch mein neuer Freund der Magier dazu in der Lage, doch wusste er nichts von meiner Vergangenheit und all den Zweifeln und Gewissensbissen, die mich quälten. Konnte unsere Beziehung eigentlich bestehen bleiben, oder war sie zum Untergang verdammt? Ich wünschte mir so sehr mit David und den anderen zusammen bleiben zu können, doch wusste ich auch, dass ich „mein" Königreich nicht einfach so im Stich lassen durfte. Es würde ans Tageslicht kommen, eines Tages ... und dann ...

Wie viel Zeit blieb mir noch? Wie lange durfte ich an seiner Seite sein, neben ihm einschlafen, umhüllt von seiner Liebe?

„Unsinn Jonathan, du bist glücklich so und das musst du auch nicht aufgeben!" redete mir die zweite Stimme ein, doch innerlich war mir sehr wohl bewusst, dass diese Worte nur ein kläglicher Versuch waren, die Pflichten, die mir beinahe seit meiner Geburt nahegelegt wurden,  einfach so abzustreifen. Ich, Jonathan Morchester, war der Erstgeborene und somit auch der Sohn mit dem meisten Einfluss und Verantwortung, daran führte kein Weg vorbei. Meine Brüder waren beide eindeutig nicht fähig oder zu jung für dieses Amt. „Und du, Jonathan?" flüsterte mein Bewusstsein. „Bist du bereit dafür?"

I was King (Deutsche Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt