Kapitel 71 - Der Ursprung der Drachenschlucht - Teil 2

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Limonas herzergreifende Stimmlage und die Tragik der Geschichte hätten Bahe mit Sicherheit nah ans Wasser gebracht, wenn er nicht auf die Lücken und fehlenden Puzzleteile aufmerksam geworden wäre.

Die Erzählung seiner Elementare vernachlässigte nämlich vollends, weshalb nicht einfach jemand anderes dem Wasserdrachen über Nekcorbs Deal mit dem Orakel berichtet hatte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Limona und Brocken die beiden Drachen mit Tante und Onkel ansprachen.

„Ich möchte ja nicht die Stimmung ruinieren", erklärte Bahe zaghaft, als er die betrübten Blicke der beiden Elementare auf sich zog. „Aber wieso nennt ihr die Drachen Tante und Onkel? Seid ihr mit ihnen verwandt?"

„Nein", meinte Brocken lächelnd. „Aber sie sind ihren Elementen... jeweils sehr nahe... und damit auch unserem Ursprung."

„Die Kinder von euch Menschen sprechen die Freunde ihrer Eltern doch auch oft mit Tante oder Onkel an, oder?", sagte Limona und stellte achselzuckend fest. „Bei uns ist das, das Gleiche."

„Wer sind denn dann eure Eltern?", versuchte Bahe seine Neugier zu stillen.

Raoie!", rief Brocken freudestrahlend aus.

„Du... meinst, dass die Welt für euch zugleich Vater als auch Mutter ist?", fragte Bahe skeptisch.

„Manchmal ist er gar nicht so blöd, wie er aussieht, oder?", stupste Limona Brocken mit der Schulter an.

„Genau", grinste auch dieser.

„...", Bahe beschloss darauf nicht einzugehen.

Stattdessen überlegte er, wie er diese Erkenntnis nutzen könnte. Ihm fiel jedoch nichts ein. Zumindest jetzt noch nicht. Wer weiß? Vielleicht wurde die Information irgendwann nochmal wichtig.

„Ok, wieso ihr die Drachen Tante und Onkel nennt, ist mir jetzt klar. Aber wenn ihr von dieser traurigen Geschichte wusstet, verstehe ich nicht, wieso ihr Nekcorb nicht geholfen habt?", fragte Bahe.

„Das ist... eine lange... Geschichte...", sagte Brocken.

„Ich möchte auch nicht länger über diese Tragödie sprechen...", wich Limona ungeschickt aus, was Bahes Neugier natürlich nur umso mehr weckte.

„Ok, lassen wir das für den Anfang... Ich habe aber noch eine ganz andere Frage...", meinte Bahe mürrisch und fragte danach fast flehend: „Könnt ihr mir helfen mein Mana unter Kontrolle zu bringen?"

„Mana?", fragte Brocken verwirrt.

„Ach ja, Menschen bezeichnen die Energie, die ein jedes Lebewesen durchfließt als Mana. Also eigentlich meine ich, ob ihr mir helfen könnt, die ganze Energie die in mir schlummern soll, zu bändigen?", korrigierte sich Bahe.

„Wieso sie bändigen?", fragte Limona verwirrt. „Sich von ihr durchfließen zu lassen ist doch viel besser..."

„Ganz genau... ist doch idiotisch... Energie zu kontrollieren..."

„Nun... was auch immer es ist...", versuchte Bahe sich auszudrücken. „Es geht mir darum, dass ich keinerlei Magie wirken kann. Ohne meine Energie zu sehen oder zu fühlen, komme ich nicht weiter..."

„Dabei... können wir helfen...", sprach Brocken. „Aber es wird... nicht so leicht für dich..."

„Hmmm...", meinte auch Limona. „Durch unseren Seelenbund, steckt in deinem kleinen und untrainierten Menschenkörper viel zu viel Energie. Es ist fast so, als ob sie in dir feststeckt und gar nicht fließen kann..."

„Aber ihr könnt mir helfen?", fragte Bahe hoffnungsvoll.

„Es wird dauern...", antwortete Brocken. „Aber es wird gehen."

„Wir müssen dafür jedoch den Platz wechseln", warf Limona ein.

„Was meinst du?", wollte Bahe wissen.

„Mit welchen Elementen bist du am stärksten verbunden?", stellte Limona ihm eine Gegenfrage.

„Mit der Erde und dem Wasser."

„Ganz genau", sagte Limona. „Deswegen müssen wir einen Ort aufsuchen, an dem du diesen beiden Elementen möglichst nah bist.

„Der Bach hier reicht nicht?", erkundigte sich Bahe und wies auf den Bachlauf unweit von ihnen.

„Besser als nichts, sicher", erklärte Limona. „Aber weiter Flussaufwärts befindet sich ein kleiner Wasserfall. Die Stelle ist noch besser."

Bahe zuckte nur mit den Schultern. Ihm sollte es egal sein. Solange seine Elementare ihm halfen endlich über Magie zu verfügen, würde er sogar seinen Tod und einen Levelverlust in Kauf nehmen.

„Balu!", rief Brocken den kleinen Bergbär, der sich in der Zwischenzeit in der Umgebung vergnügt hatte, zu sich und nutzte ihn gemeinsam mit Limona als Reittier, was Bahe aber dankend ablehnte. Der letzte Ritt war alles andere als Hintern schonend gewesen. Sofern es nicht anders ging, bevorzugte Bahe es sich auf seinen eigenen Beinen fortzubewegen.



Sin rekelte sich seufzend im Gras des Waldes südlich von Waldenstadt und genoss die wohltuende Sonne auf der Haut. Es gab immer noch viel zu wenige Spieler, die die Natur Raoies wirklich zu schätzen wussten.

Raoie war Sins neues Zuhause geworden. Hier konnte man der realen Welt wahrhaftig entfliehen. Es gab keine Beobachtung, keinen Druck, keine Trauer, kein Herzschmerz, kein Seelenschmerz... In Raoie lebte Sin einfach nur im Hier und Jetzt. Durch eine jede Spielzeit verblasste der grausame Alltag und lieferte stattdessen den Nährboden, den Sin so dringend zum Leben brauchte.

Zuletzt war es immer schlimmer geworden. Ohne Raoie wäre Sin in der Realität wohl schon längst zerbrochen. Dieses Spiel war der letzte Rückzugsort, die letzte Festung die Sin von der Außenwelt abschirmte und zugleich frei sein ließ. Hier konnte man tun und lassen was immer man wollte. Diese vollkommene Freiheit war das größte Geschenk gewesen, welches Sin jemals zu teil geworden war.

Und dieser späte Nachmittag hier... die Sonne, die sich allmählich dem Horizont näherte... das Zwitschern der Vögel... die leichte Brise... Es wirkte so real. Die Möglichkeit diesen Moment zu genießen, war für Sin ein Wunder.

Seelig summte Sin eine Melodie vor sich hin, als sich ein weiteres Wunder ereignete. Der Blattmarker meldete sich plötzlich in den Tiefen des eigenen Unterbewusstseins.

Für Sin war es immer noch eine merkwürdige Erfahrung mit den eigenen Fähigkeiten zu hantieren. Besonders diese Verbindung zur Natur Raoies... es war ein seltsames wie ehrfürchtiges Gefühl.

Anfangs hatte Sin regelrechte Angstzustände ausgestanden, als all diese Informationen auf einer Gefühlsebene offenbart wurden, die man normalerweise nicht für möglich halten würde. Doch inzwischen war es für Sin regelrecht zur zweiten Natur geworden, ohne die man nicht mehr leben wollte.

Umso mehr verblüffte es Sin, dass das Ziel Waldenstadt noch verließ, als sich die Spieleinheit bereits dem Ende zuneigte. Auf die Fähigkeit des Blattmarkers war Verlass. Sin spürte definitiv, wie sich der Spieler ganz in der Nähe im Wald aufhielt. Merkwürdiger Weise verharrte der Spieler jedoch an Ort und Stelle, ohne sich fortzubewegen.

Da Sin den ganzen Tag nichts zu tun gehabt hatte, war kurzerhand die Umgebung untersucht worden. Es waren mit Sicherheit keine Monster in der Nähe des Spielers und wenn sich Sin in der Rückmeldung des Blattmarkers nicht täuschte, so saß der Spieler einfach auf dem Boden rum.

„Was treibt der Kerl...?", murmelte Sin verwirrt vor sich hin.

Es ergab einfach keinen Sinn... Der Typ bewegte sich überhaupt nicht. Würde er Artefakte herstellen oder Magie wirken, hätte Sin schon längst eine Rückmeldung bekommen... Und es waren auch keine anderen Spieler in der Nähe, mit denen er sich unterhalten konnte...

Ein durchtriebenes Lächeln breitete sich auf Sins Gesicht aus. Interessante Ziele waren immer die besten...

Neugierig machte Sin sich auf dem Weg zum eigenen Blattmarker und dem Spieler, welcher bald auf Level 0 gemordet werden würde.

Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt