Kapitel 55 - Meister...? - Teil 1

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Im Haus sah Huilan am Abend aus dem Fenster und beobachtete den jungen Ausländer, wie er mal wieder vor ihrer Haustür kniete. Er war zwar nicht jeden Tag gekommen und natürlich auch nie von morgens bis abends geblieben, aber er suchte sie wirklich regelmäßig auf.

Was wohl ihr Vater dazu sagen würde...?

Huilan seufzte als sie ihren Vater im Wohnzimmer aufstoßen hörte. Scheinbar soff er schon wieder.

Vor gut einem Jahr hatte er aufgehört irgendwelche Kampfsportschüler zu unterrichten. Davor waren sie beinahe jedes Wochenende von seinen Schülern besucht worden. Sie wusste bis heute nicht, was ihn dazu veranlasst hatte, alles aufzugeben. Aber seitdem war es mit ihm zunehmend bergab gegangen...

Ein halbes Jahr danach hatte er dann angefangen zu trinken und kurze Zeit später dadurch seinen Job verloren...

Ihnen ging es gut, dass wusste Huilan. Ihre Familie hatte genügend Rücklagen, um lange davon leben zu können. Doch ihr Vater suchte nicht mal nach Arbeit, stattdessen war er viel mehr darum bemüht, stets Alkohol im Haus zu haben.

Zum Frühstück gab es Bier, manchmal sogar Stärkeres und so verhielt es sich auch für den restlichen Tag. Huilan war froh, wenn er ab und an ihre selbst gemachten Mahlzeiten zu sich nahm. Es war ein Wunder, dass er bei seiner einseitigen Ernährung noch nicht krank geworden war...

Vor einigen Wochen war es dann sogar ihrer Mutter zu viel geworden. Sie hatte ihre Sachen gepackt, in die City gezogen und arbeitete wieder. Sie kam am Wochenende immer noch zu ihnen, um nach ihr zu sehen und Huilan war dankbar darüber. Ihre Mutter hatte ihr mehrere Male angeboten, mit ihr in die Innenstadt zu ziehen. Die Wohnung war wirklich mehr als groß genug. Doch Huilan hatte abgelehnt. Sie selbst konnte ihren Vater einfach nicht komplett alleine lassen.

Und dann war dieser junge Ausländer gekommen. Er war irgendwie ein Hoffnungsschimmer, dass er ihren Vater vielleicht aus seiner Lethargie reißen konnte...

Sie atmete einmal tief ein, um sich selbst Mut zu machen und ging ins Wohnzimmer.

„Pá, der junge Ausländer ist wieder hier. Heute ist es soweit, dass du dich entscheiden musst", sprach sie ihn an.

„Was? Welcher Ausländer?!", blaffte er genervt, mitten in seiner Fernsehserie gestört worden zu sein.

„...", Huilan schüttelte nur den Kopf. Hatte sie sich wirklich Hoffnung gemacht?

„Jetzt sag schon, was ist los?!", verlangte er zu wissen, während er weiterhin auf die Visualisierungsfläche starrte.

„Du erinnerst dich nicht mehr? Der junge Ausländer, der dich vor zwei Wochen nach Hause gebracht hat. Du hattest versprochen ihn zu unterrichten, wenn er das macht."

„Pah! Das habe ich nie versprochen!", ereiferte sich ihr Vater. „Ich habe nur gesagt, dass ich es mir überlege!"

„Ja, und seitdem kniet er täglich vor unserer Haustür, um dich zu überzeugen! Wer macht sowas schon noch in der heutigen Zeit, Pá?"

„Hahaha", brach es schallend aus ihrem Vater hervor. „So ein Dummkopf, als ob ich es mir deswegen anders überlegen würde."

„Pá!"

„Was denn?!"

„Wie kannst du nur..."

„Wie kann ich nur was?", fragte ihr Vater plötzlich wütend und erhob sich.

„..." Huilan schaute bedrückt zu Boden und wusste nicht, was sie sagen sollte.

Ihr Vater schwankte merklich, als er ein paar Schritte auf sie zu machte und sagte: „Mir reicht es langsam mit deinen Wunschvorstellungen! Ich trainiere keine Leute mehr! Basta! Und du bist mir gefällig noch mal Respekt schuldig, anstatt an mir zu zweifeln! Hörst du dich eigentlich selbst reden? Pá dies, Pá das... Pá iss mehr Gemüse... Ich mag diesen scheiß Fraß nicht! Und diesem Mist mit dem Ausländer bereite ich jetzt ein Ende! Ich bin es leid, dass du mir wegen einem Wildfremden in den Ohren liegst!"

Damit stapfte er an ihr vorbei und Huilan zuckte vor seiner gewaltvollen Ausstrahlung zurück.

Wie hatte es bloß so sehr nach hinten los gehen können...?

Einen Moment später folgte sie ihm, nur um festzustellen, wie er gerade die Haustür aufriss.

„Meister Chin", hörte sie den Ausländer noch von draußen, da donnerte ihr Vater auch schon los.

„Nenn mich verdammt nochmal nicht Meister! Ich dachte, du checkst, dass ich dich nur verarscht hab, aber du bist scheinbar selten dämlich! Mach das du davon kommst und lass dich bloß nie wieder hier blicken! Hast du mich verstanden?!"

„Aber Meister..."

„NENN MICH NICHT MEISTER!", schrie ihr Vater plötzlich aus Leibeskräften und war drauf und dran auf den Jungen loszugehen, als Huilan panisch einschritt und ihren Vater am Arm packte.

„Geh, es tut mir leid, aber er wird dich nicht trainieren", richtete sie sich kurz an den Ausländer und richtete anschließend ihre Aufmerksamkeit auf ihren Vater.

„Lass mich los, Huilan! Ich werde diesen Sohn einer Schildkröte zusammenschlagen, wenn es das ist, was es braucht, damit er endlich von hier verschwindet!"

„Nein, Pá, tu das nicht. Er wird gehen. Aber du musst dich beruhigen", drängte Huilan ihren Vater und sah aus den Augenwinkeln, wie sich der Ausländer endlich aufrichtete und mit niedergeschlagener Miene den Rückweg antrat.

Doch ihrem besoffenen Vater ging das alles wohl nicht schnell genug.

„Schreibst du mir schon wieder vor, was ich zu tun und zu lassen hab?", schrie er sie an und riss sich mit einer schwungvollen Armbewegung los.

Huilan verlor das Gleichgewicht und fiel hart gegen den Türrahmen, wo sie kurzzeitig benommen liegen blieb.

Ihr Vater, der dem Ausländer schon hinterher rennen wollte, hielt plötzlich in der Bewegung inne. Scheinbar geschockt über sich selbst rümpfte er schließlich die Nase und sagte: „Sie zu, dass du deinen Kopf kühlst. Fehlt mir noch, dass deine Mutter mir die Hölle heißt macht, weil du dich wie eine Idiotin aufführst."

Danach stapfte er wieder ins Haus und Huilan hörte wenig später erneut das so bekannte Zischen einer neu geöffneten Flasche Bier.

Mit Mühe kämpfte sie die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten und blickte in die Richtung, in der der Ausländer verschwunden war.

„Es tut mir leid, ich habe alles versucht...", murmelte sie leise und deprimiert vor sich hin.

Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2Where stories live. Discover now