Kapitel 73 - Ein schweigsamer Gesprächspartner - Teil 1

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Sin lachte aus voller Kehle, als der Spieler das Weite suchte. Es war so amüsant gewesen, wie der Kerl durch die Gegend gehüpft war, dass Sin sich sehr zusammen reißen musste, um nicht schon vorher die eigene Position zu verraten.

Mit solch einem Newbie zu spielen, hatte doch tatsächlich mehr Spaß gemacht als gedacht. Lustig war auch, dass das Bergbärenjungtier die ganze Zeit vor seinem Meister davon gelaufen war. Es hatte immer genügend Abstand zwischen sich und dem Spieler gehalten, um nicht ins Kreuzfeuer der schwingenden Äste zu geraten.

Zumindest hatte es den Kerl nicht gänzlich allein zurück gelassen. Dachte Sin, die süße Rache auskostend.

Daraufhin hatte sich Sin natürlich an die Fersen des Spielers geheftet und durch das Dickicht des Waldes beobachten können, wie der Typ sich zunächst erholte und anschließend begann irgendein Fleisch zu grillen.

Ohne die eigenen Fähigkeiten zu verraten, hätte Sin den Newbie vor dem Bach nicht weiter ärgern können, weshalb vorläufig nur das Abwarten übrig blieb. Schließlich wollte Sin vorläufig lieber unter dem Radar bleiben. Unnötige Aufmerksamkeit war das Letzte, was Sin sich wünschte und einen Spielanfänger, der plötzlich Gerüchte über die eigene Person verstreute, hieß es dementsprechend zu vermeiden.

Diesen Idioten auf Level 0 zu morden ließ sich schließlich auch unbemerkt bewerkstelligen. Aber man musste eben Geduld haben.

Irgendwann wurde es Sin dann doch zu langweilig. Sich streckend, machte Sin gerade die ersten Schritte auf den Spieler zu, als ein köstlicher Grillgeruch herüber wallte und Sin augenblicklich zum Stillstand brachte.

Was auch immer es für ein Fleisch war, das dort zubereitet wurde... Es roch himmlisch!

Nicht das Sin ein Problem damit gehabt hätte genügend Rationen und Proviant in den eigenen Speichergegenständen mit sich zu schleppen.

Aber eine selbst zubereitete Mahlzeit war zugegebener Maßen etwas anderes. Es war tatsächlich das erste Mal, dass Sin solch einer Person begegnete. Normaler Weise mühte sich niemand mit dergleichen ab.

Raoie bedeutete Sin wirklich viel. Nicht zuletzt durch den unglaublichen Detailreichtum war Raoie für Sin mittlerweile weit wichtiger als die Realität geworden. All diese kleinen Dinge ermöglichten es, sich so richtig in diese Welt hinein versetzen zu können. Ohne den hohen Realitätsgrad, wäre es letztlich nie möglich gewesen dem furchtbaren, realen Leben zu entfliehen. Raoie wäre nur ein Spiel unter vielen geblieben.

Im Zusammenhang mit dem unwiderstehlichen Geruch, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde, war sich Sin allmählich nicht mehr so sicher, ob der Spieler wirklich den Tod verdiente.

Konnte man jemanden, der Raoie genauso sehr lebte wie man selbst, wirklich umbringen?

Sin wusste es nicht...

Zumal es ja im Grunde klar war, dass dieser Newbie niemals allein das Jungtier der Granitfelsspinne bezwungen haben konnte. Vielleicht war er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?

Sin war einfach so wütend gewesen, dass irgendjemand oder irgendetwas als Frustrationsventil herhalten musste und da kam dieser Spielanfänger gerade recht...

Hin und her gerissen verharrte Sin an Ort und Stelle, bis ein eigenes Magenknurren die Entscheidung fällte.

Der Typ konnte auch später noch seinen Tod finden. Aber wieso nicht vorher ein leckeres Essen genießen?

Mit festen Schritten trat Sin aus der Deckung und stellte zufrieden fest, wie der Spielanfänger sich augenblicklich versteifte.



„Wer ist... denn... das?", fragte Brocken.

„Keine Ahnung...", meinte Limona schulterzuckend.

Bahe ignorierte hingegen seine Elementare als er erkannte, dass sich die Gestalt vor ihm weit über seinem Level befand und kam fast augenblicklich ins Schwitzen.

In seiner übereilten Flucht vor den peitschenden Ästen, hatte er vollends den Überblick verloren und war sich nicht mehr allzu sicher, ob er sich noch in der sicheren Zone rund um Waldenstadt befand.

Hatte es dieses Individuum auf seine Artefakte abgesehen, konnte er sich womöglich nur seinem Schicksal ergeben... Was definitiv keine nette Aussicht war...

„Oh, oh...", gab Brocken wenig hilfreich von sich, während Balu vor Schreck hinter einen der nächsten großen Steine sprang, der ihn mal wieder nur zur Hälfte verstecken konnte.

„Du solltest dir wirklich etwas einfallen lassen...", meinte Limona panisch. „Wer auch immer das ist, ist weit mächtiger als du es bist..."

Die Gestalt kam zügig auf Bahe zu, was ihn im Anbetracht der hilfreichen Kommentare seiner Elementare innerlich bereits in Panik ausbrechen ließ.

Doch dann setzte sich die Gestalt urplötzlich gegenüber von ihm, auf die andere Seite des Feuers hin und zeigte auf die Kaninchenkeule und anschließend auf den eigenen Mund. Oder zumindest auf die Stelle, an der Bahe den Mund der Gestalt vermutete.

„..."

Für einen Moment herrschte vollkommene Stille.

„Du solltest langsam mal den Mund zuklappen", gab Limona piepsend den hilfreichen Hinweis, der Bahe endlich aus seiner Schreckstarre löste und er schloss seinen Mund schnell.

„Du willst... was abhaben...?", fragte er zögerlich.

Die Gestalt nickte und streckte fordernd die Hand aus.

„Ähm... ok...", antwortete Bahe kleinlaut und wollte die fertige Kaninchenkeule gerade zerteilen, als die Gestalt mit flacher Hand auf einen der umliegenden Steine schlug und die fordernde Bewegung diesmal bedeutungsschwerer vollführte.

„Ich glaube... es will... alles haben...", meinte Brocken.

„Äh... du... willst alles haben...?", formulierte Bahe passend eine Frage, der die Ansicht seines Elementars teilte.

Wieder ein Nicken, wenn auch diesmal weit energischer als beim letzten Mal.

„Aber... das ist mein Essen...", versuchte sich Bahe, doch als die Gestalt plötzlich Anstalten machte wütend aufzuspringen, meinte er nur schnell: „Schon gut! Schon gut! Du kannst alles haben!"

„Dummkopf!", schimpfte Limona zischend. „Da ist etwas weit mächtiger als du es bist und du widersprichst dem Ding auch nocht?!"

Bahe wollte bei Limonas Worten schon die Augen verdrehen, besann sich aber eines Besseren.

Gequält übergab Bahe den dünnen Stock mit der gesamten Kaninchenkeule samt Schenkel, welchen die Gestalt ohne ein Wort entgegen nahm.

Stattdessen konnte Bahe entgeistert beobachten, wie sich die Gesichtsmaske, die Teil der Rüstung zu sein schien, merkwürdig nach vorne verschob und so scheinbar unten eine Öffnung bildete, durch die es der Gestalt möglich war das Wildwurzelkaninchenfleisch zu verspeisen.

„Das ist... praktisch...", murmelte Brocken.

„Kann ich nur zustimmen", gab auch Limona von sich.

Es dauerte keine zwei Minuten, da wurde ihm der Stock, um das Kaninchenfleisch erleichtert, mit einer auffordernden Geste zurück gereicht.

„Du... willst noch mehr?", traute Bahe seinen Augen kaum.


Teil 1/3!

RiBBoN

Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2Où les histoires vivent. Découvrez maintenant