Kapitel 43 - Aufbruch - Teil 1

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„Han Ning, beeil dich, du musst zur Arbeit!"

Genervt öffnete er die Augen und starrte sein Spiegelbild an.

Seine Haare färbten sich seit einigen Jahren bereits zunehmend grau. Die kleinen Fältchen um seine Augen und Mundwinkel wurden auch immer mehr. Es war nicht zu übersehen, dass der Stress der letzten Jahre ihm zugesetzt hatte. Aber wozu das alles?

Stöhnend bemerkte er ein weiteres Mal wie seine Augen ihn stumpf aus dem Badezimmerspiegel anstarrten. Solch ein lebloser Blick...

Es war der Blick eines Versagers, der sich mit dem Unvermeidlichen bereits abgefunden hatten. Seit zwölf Jahren war er nun bereits bei der Kanzlei und war doch nur Senior Associate. Was im Endeffekt hieß, dass er zwar eigene Fälle bearbeiten konnte, sich aber nicht aussuchen durfte, welche.

Würde es nicht die Reglementierungen geben, dass ein Anwalt mit zunehmendem Dienstalter mehr verdiente und diese Stellung automatisch erhielt, wäre es wahrscheinlich nicht mal dazu gekommen. Zu oft war er bei Beförderungen inzwischen übergangen worden, als dass er noch Kraft gehabt hätte, sich darüber zu beschweren.

„Han Ning! Du musst los!", brüllte seine Frau erneut aus der Küche.

Familie... früher hatte er durch sie die Ungerechtigkeiten auf der Arbeit ertragen können. Heute erinnerte ihn das Geschrei seiner Frau nur erneut daran, wie sehr sie sich inzwischen auseinander gelebt hatten.

Er hatte noch mehr als genug Zeit die nächste Bahn zu bekommen, aber seine Frau konnte es scheinbar nicht erwarten ihn loszuwerden.

Wenigstens würde er heute die Ergebnisse seines Privatdetektives bekommen. Schon lange hegte er die Vermutung, dass seine Frau eine Affäre hatte. Wann genau es begonnen hatte, wusste er gar nicht mehr. Aber mit der Zeit hatte er festgestellt, dass seine Frau mehr Zeit außer Haus verbrachte als gewöhnlich.

Es wunderte ihn gar nicht so sehr... Sie hatten zuletzt vor knapp einem Jahr miteinander geschlafen und auch das war mehr ein Pflichtakt als alles andere gewesen.

Begehrte er sie noch? Liebte er sie noch?

Er wusste es nicht.

Im Grunde war es ihm auch egal. Im war so vieles egal geworden.

Von der Midlife-Crisis sprachen einige seiner Kollegen, wenn sie mal eine deprimierte Phase hatten. Doch die Idioten hatten keine Ahnung. Abgesehen davon, dass sie noch viel zu jung dafür waren, machte ihnen der Chef auch nicht das Leben zur Hölle. Er selbst hingegen, stand seit Jahren auf der Abschussliste des neuen und damit zugleich auch jüngsten Vollpartner der Kanzleigeschichte.

Bei En Rui der Star des Rechtssystems der Stadt! Bei En Rui, der Wohltäter! Bei En Rui, der Vollstrecker!

Es verging kaum ein Tag, an dem sich dieses Arschloch nicht in den Medien präsentierte. Wahrscheinlich bezahlte er so manchen Reporter sowieso dafür, damit sie ihm besonders wohl gesonnen waren. Pah!

Dieser Bastard hatte dafür gesorgt, dass er bereits mehrere Jahre in Folge bei den Beförderungen übergangen worden war und noch immer keine richtigen Fälle bekam. Vor Jahren hatte er einmal mit ihm zusammenarbeiten müssen. Es war einer der wichtigsten Fälle seiner Karriere gewesen. Beim Sieg hätte ihm entweder eine Junior-Partnerschaft oder zumindest die Position eines Salary-Partners zugestanden. Und was passierte?

Bei En Rui, der damals noch als Han Nings Assistent arbeitete, nutzte seine Befugnisse schamlos aus, um die Anhörung vorzuverlegen, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzten!

Doch damit nicht genug. Er gab zudem an, dass Han Ning durch einen Autounfall verhindert wäre und führte die Verteidigung ihres Klienten selbst durch. Selbstverständlich mit nichts anderem als dem von Han Ning über Wochen vorbereitetem Material.

Die Kanzlei hatte den Prozess gewonnen, wenn hinsichtlich der Unfähigkeit Bei En Ruis auch nur knapp. Aber selbstverständlich wurde damals darüber hinweg gesehen, da er eigentlich gar nicht für den Fall verantwortlich war und die Kanzlei vielmehr vor einer Blamage bewahrt hatte.

Han Ning hatte im Gegenzug sämtliche Verantwortung tragen müssen und war im Ansehen des Vorstands vollends abgesunken. Während ihm sein damaliger Chef noch darüber belehrte, dass er Bei En Rui dankbar sein sollte, dass dieser so viel Eigeninitiative gezeigt hatte, hatte dieser Mistkerl, mit dem für ihn typischen, arroganten Engelslächeln der ganzen Szene beigewohnt und nichts unternommen.

Eine solche Unverschämtheit war Han Ning noch nie untergekommen. Er hatte damals einfach nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte und ehe er sich versah, war Bei En Rui vom Assistenten zum vollwertigen Anwalt und weiter zum Junior-Partner aufgestiegen.

Was folgte waren Jahre der Quälerei, in denen dieser Bastard alles tat, um ihn vor der Kanzleiführung möglichst schlecht da stehen zu lassen.

Dann, vor zwei Monaten, war es soweit und Bei En Rui stieg zum vollwertigen Partner der Kanzlei auf. Seitdem war alles nur noch schlimmer geworden, da dieses Arschloch sich ihm gegenüber nun erlauben konnte was er wollte, ohne irgendjemanden Rechenschaft ablegen zu müssen.

Han Ning seuftze.

Ein furchtbarer Job... Eine untreue Ehefrau...

„Papa, kann ich in's Bad? Ich muss mich fertig machen."

„Aber natürlich, Mu Rui, ich bin fertig", antwortete er schnell und öffnete die Tür.

Seine siebzehnjährige Tochter gab ihm einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange und machte sich dann eiligst daran ihr bescheidenes Make-Up aufzutragen.

Trotz aller Widrigkeiten musste Han Ning lächeln. Seine beiden Töchter waren sein einziger Lichtblick. Ihretwegen schuftete er Tag für Tag im Büro, auch wenn es bedeutete sich weiter von En Rui erniedrigen zu lassen.

Ohne es noch länger heraus zu zögern, zog er sich seine Anzugsjacke über, prüfte ein letztes Mal, ob seine Krawatte richtig saß und ging in die Küche, um sich seine Mittagsmahlzeit abzuholen, die seine Frau immer noch aus Gewohnheit machte.

Die Küche fand er jedoch leer vor. Verdutzt schaute er sich um, entdeckte seine Frau aber nirgends. Auf dem Esstisch stand seine Lunchbox, ansonsten war nichts zu sehen. Ohne weiter drüber nachzudenken, ging er hinüber und griff bereits nach der Box als er den kleinen Zettel bemerkte, den seine Frau offensichtlich daran geklebt hatte.

Hast du in zwei Tagen Zeit? Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen.

Etwas Wichtiges, ja?

Na sicher, er hatte Zeit. Sie wird Augen machen, dachte er, wenn er ihr die Beweise für ihre Untreue vorlegen würde. Han Ning war gespannt was sie danach noch zu erzählen hatte.

Er packte die Lunchbox schnell in seine Tasche und machte sich danach auf den Weg zur Arbeit. Dann kam er eben früher, so konnte er auch früher gehen. Nicht, dass er wüsste, was er mit seiner freien Zeit an stellen sollte...

Fünfundvierzig Minuten später setzte er sich gerade mit bearbeitetem Fallmaterial auf seinen Bürostuhl, als sein Albtraum höchst selbst das Großraumbüro betrat.



Soo... da wären wir. Keine Sorge, im 2. Teil wird es wieder mit Bahe weitergehen ;)

Viel Spaß beim Lesen!

RiBBoN

Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt