Nummer 32

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"Ja, das war doch klar...", Marc war weiterhin verwirrt. Ich atmete einmal tief durch.

„Nein, du verstehst nicht... Die Hounds haben vier Leute geschickt, die bei uns zuhause nach Mary gesucht haben. Sie haben sie nicht gefunden und deswegen haben sie mich mitgenommen und...", ich stockte. Stille. Dann konnte ich am anderen Ende Marc scharf Luft holen hören.

„Was haben sie gemacht?" Mühsam unterdrückte Aggression schwang in seiner Stimme mit. Anscheinend konnte er sich schon grob vorstellen, was die Hounds mit mir gemacht hatten.

„Was glaubst du denn? Sie haben mich ja wohl kaum zu einer gemütlichen Teestunde mitgenommen", schnaubte ich sarkastisch. Ich hatte keine Ahnung, wo die Wut auf einmal herkam, doch es war unfair, sie an Marc auszulassen. Er konnte nun auch nichts dafür, dass... Eigentlich lag es an Ryan, wurde mir urplötzlich klar. Ich wäre lange nicht so verletzt gewesen, wenn die Hounds mich mitgenommen und von irgendjemandem, zum Beispiel Panther, hätten foltern lassen. Doch ich wollte nicht wahrhaben, dass Ryan mir wehgetan hatte und das auch noch, ohne mit der Wimper zu zucken. Und als er damit aufgehört und ich mich ihm geöffnet hatte und ihm erzählt hatte, dass Mary mit Marc zusammen unterwegs war, hatte er gleich alles den Hounds brühwarm erzählt. Ich fühlte mich so unglaublich verraten, so enttäuscht und gedemütigt und so wütend.

„Wo seid ihr? Kann ich zu euch kommen?", fragte ich, einem plötzlichen Impuls folgend. Ich konnte schon fast Marc am anderen Ende die Stirn runzeln sehen.

„Meinst du, das ist so eine gute Idee?", fragte er zögerlich. Ich kniff die Augen zusammen.

„Bitte, ich muss euch sehen. Ich muss sehen, dass es euch gut geht", versuchte ich zu erklären. „Ich habe dich die ganze Zeit nicht erreicht, du glaubst gar nicht, wie große Sorgen ich mir gemacht habe..." Marc seufzte schwer.

„Ich habe gesehen, dass du angerufen hast, aber es erschien mir zu unsicher, eine Verbindung zwischen unseren beiden Handys zu haben. Ich dachte, früher oder später kommst du schon darauf, auch wenn wir das nicht abgesprochen haben..."

„Bin ich ja schließlich auch", erwiderte ich spitz. „Marc, bitte, ich möchte euch sehen, nur kurz." Wieder schwieg Marc. Ich wusste nicht mehr, was ich noch sagen sollte, um ihn zu überzeugen, dass ich sie wenigstens kurz sehen musste, mich überzeugen musste, dass es ihnen gut ging.

Marc schwieg fast drei Minuten, so lange, dass ich schon Angst hatte, er hätte aufgelegt, bis ich seinen Atem im Hörer hörte.

„Also gut", lenkte er schließlich ein. Ich seufzte erleichtert auf. „Du erinnerst dich doch bestimmt an diesen einen Ort, den wir mal entdeckt haben, als wir Kinder waren, unser persönliches Gruselkabinett. Dort treffen wir uns in zehn Minuten. Komm nicht zu spät."

Bevor ich ihm versichern konnte, dass ich mich erinnerte und kommen würde, hatte Marc auch schon aufgelegt. Ich hängte den Hörer zurück. Ich fühlte mich so erleichtert, als würde ich gleich anfangen, zu fliegen.

Ich bedankte mich für das Telefonieren und beeilte mich, aus dem Diner zu kommen. Wenn ich in zehn Minuten dort sein sollte, wo Marc mich hin lotsen wollte, musste ich mich beeilen.

Ich wandte mich erneut nach links, in Richtung des Delaware, eines der beiden Flüsse, die durch Philadelphia flossen, benannt nach dem einen Stamm, der hier ursprünglich gelebt hatte und von dem ich zum Teil durch meine Großmutter abstammte.

Dort, ganz in der Nähe des Flusses, befanden sich mehrere verlassene Häuser, teilweise schon Ruinen, teilweise noch ganz gut erhalten. Marc und ich hatten uns, als wir elf gewesen waren, einmal verlaufen und waren in diesen Teil von Philly gekommen. Tagelang hatten wir die Häuser untersucht, bis wir eins gefunden hatten, in dessen Stabilität wir vertraut hatten. Es hatte die Hausnummer 32 gehabt.

Ich war bereits eine ganze Weile nicht mehr in diesem Viertel gewesen und als ich nun durch die Straßen lief, stellte ich erstaunt fest, dass es sich wieder bevölkert hatte. Viele Häuser waren renoviert worden. An der Straße parkten Häuser und ich blickte über weiße Lattenzäune in gepflegte Vorgärten. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte nochmals. Hatte ich mich geirrt? Meinte Marc doch nicht das Haus mit der Nummer 32? Oder führte er mich bewusst woanders hin, weil er davon ausging, dass ich von den Hounds gezwungen worden war, ihn anzurufen?

Ich rannte schon fast, als ich endlich ankam. Bestürzt blieb ich auf der Stelle stehen, als ich es sah. Auch die Nummer 32 war restauriert worden. Mit großen Augen sah ich das Haus an, in dem Marc und ich uns so oft versteckt hatten, wenn unser Vater zuhause wieder getobt hatte. Die ehemals grauen, nackten Wände waren nun in einem Pastellblau gestrichen. Die Löcher in den Wänden waren durch Fenster mit weiß lackiertem Rahmen ausgefüllt. Es hätte beinahe hübsch ausgesehen, wenn ich nicht eigentlich gehofft hätte, hier meine Geschwister zu finden.

Meine Unterlippe fing an zu zittern und ich hielt mir die Hand vor den Mund, um es zu unterdrücken. Meine Beine wurden weich. Wo waren sie nur? Hatte Marc mich an der Nase herumgeführt? Ich könnte ihm nicht einmal wirklich böse sein deswegen. Ich wusste, dass er nur seine und Marys Sicherheit damit bezweckte.

In diesem Moment öffnete sich die Haustür einen Spalt weit und ein Gesicht erschien in dem Spalt, ebenso wie eine Hand, die mich unauffällig aber unmissverständlich in das Haus winkte. Ich konnte gar nicht schnell genug den Kiesweg zur Haustür hochlaufen und die Tür aufstoßen.

Hinter der Tür stand Marc und schloss, sobald ich im Haus war die Tür wieder hinter mir. Ich stand in einem weiß gestrichenen Flur, in dem Bilder und andere Dekoration hingen. Zu meiner Linken führte eine Holztreppe ins obere Stockwerk, zu meiner Rechten und geradeaus führten Türen in Räume. Zumindest der grobe Aufbau des Hauses hatte sich nicht geändert. Marc, der neben der Treppe stand, hatte seine Stirn gerunzelt, doch seine Augen wurden weich, als er meine Erleichterung bemerkte.

„Wo ist Mary?", wollte ich wissen.

„Ich bin hier", antwortete mir eine helle Stimme und Mary kam aus einem Raum zu meiner Rechten. Sie sah etwas übernächtigt aus und ihre Haare schienen eine Dusche vertragen zu können, doch sie war hier und sie lebte und es ging ihr den Umständen entsprechend gut. Ich keuchte erlöst auf, als auch noch das letzte bisschen Anspannung von mir abfiel.

Schnell schloss ich sie in die Arme und atmete ihren typischen Duft, vermischt mit einem leichten Schweißgeruch und dem Geruch nach Angst ein. Auch Mary drückte sich an mich und ich machte mir kurz Sorgen, wie gut sich Marc um ihren geistigen Zustand gekümmert hatte. Immerhin hatte sie vor ein paar Tagen zwei Menschen sterben sehen...

Marc unterbrach unsere glückliche kleine Zusammenkunft. „Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Von dort aus geht kein Fenster raus auf die Straße", meinte er ernst und Mary und ich folgten ihm widerspruchslos ins Innere der Halle.


So das wars mal wieder. Hoffe, es gefällt euch. Wahrscheinlich kommen heute noch ein paar Kapitel und morgen kommt dann der Schluss. Voten und kommentieren nicht vergessen ;)

The dark inside meWhere stories live. Discover now