Song of the Century

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Wir saßen noch eine ganze Weile in dem gemütlichen kleinen Diner und redeten. Unser Gespräch floss von einem Thema zum anderen, leicht und ohne großes Nachdenken. Ich ertappte mich immer wieder dabei, dass ich ihn ohne besonderen Grund anlächelte, doch er erwiderte jedes Mal mein Lächeln und so war es mir nicht übermäßig peinlich.

Wir fuhren bereits am Nachmittag zurück nach Philly, weil Ryan vorgeschlagen hatte, noch ins Kino zu gehen. Diesmal konnte ich meine Augen offen halten und die Landschaft bewundern, durch welche wir fuhren. Natürlich war es Winter und nichts blühte, doch ich konnte selbst den kahlen Ästen und den sanften, grauen Hügeln eine gewisse Schönheit abringen. Voller Wohlbehagen zog ich meine Beine an mich und wechselte das Lied. Nun kam Green Day, die Band, die meine frühe Pubertät begleitet hatte, und ich sang voller Nostalgie mit. Zuerst summte ich nur leise, doch irgendwann riss es mich mit und ich sang den Refrain zwar immer noch leise aber doch voller Inbrunst mit. Ich blickte nicht zur Seite, ich war mir nicht sicher, was Ryan davon halten würde, doch als der Refrain ein zweites Mal kam, mischte sich unter die Stimme des Leadsängers von Green Day und meiner wesentlich helleren eine weitere Stimme. Ryans dunkler Bass passte hervorragend in das Klangbild und nun blickte ich doch zur Seite und sah ihn an und er sah mich an und seine Augen strahlten und zusammen sangen wir und ich war von einem Glück erfüllt, von dem ich nicht gedacht hätte, dass es existieren würde.

Wir gingen tatsächlich noch ins Kino in einen wundervollen Film über die Entstehung des Zirkus. Während des Filmes nahm Ryan meine Hand und da wir in der letzten Reihe saßen und niemand uns sehen konnte, schmiegte ich mich an ihn und er gab mir einen kurzen Kuss, bevor wir uns wieder auf den Film konzentrierten. Als der Film vorbei war, saßen wir noch lange im Kinosaal, so lange bis auch der Letzte rausgegangen war und die Reinigungskraft, ein schmächtiger Student mit Brille, etwas ungeduldig mit einer blauen Mülltüte am Eingang stand und wartete, dass wir auch endlich verschwinden würden. Er tat mir leid und so drängte ich Ryan, seinen Hintern von den rot gepolsterten Sesseln zu erheben und das Kino mit mir zu verlassen. Inzwischen war es arschkalt und ein eisiger Wind wehte durch die Straßen. Ryan brachte mich noch bis vor die Haustür und dann musste ich mich auf einmal verabschieden.

Schweigend saßen wir im Auto, die Heizung gab ihr Bestes und bließ uns trockene Luft in die roten Gesichter. Meine Hände lagen ineinander verknotete in meinem Schoß. Mein Herz klopfte, doch ich löste sie langsam voneinander und legte meine linke Hand auf Ryans Oberschenkel. Der Jeansstoff fühlte sich grob auf meiner Haut an und darunter konnte ich die starken Muskeln spüren. Ryan legte seinerseits seine Hand auf meine und streichelte sie leicht.

„Das war ein wunderschöner Tag", sagte ich zu ihm. Er lächelte mich an.

„Freut mich, dass es dir gefallen hat", gab er zu. Ich nickte, wusste nicht mehr genau, was ich sagen sollte.

„Also dann sehen wir uns... morgen?" Irgendwie war es eine halbe Frage geworden.

„Auf jeden Fall" Langsam kamen wir uns immer näher und als sich unsere Lippen berührten, schloss ich meine Augen. Wir brauchten eine ganze Weile, um uns voneinander zu verabschieden. Bevor ich mich zurückziehen konnte, zog Ryan nochmal seinen Kopf zu sich her und drückte mich an sich.

„Gute Nacht, meine Königin", flüsterte er mir ins Ohr und ich erschauerte kurz, so schön klang das.

„Warum Königin?", wollte ich wissen. Ich spürte ihn grinsen.

„Elisabeth und Victoria, du bist nach gleich zwei Königinnen von England benannt. Und jetzt bist du Königin über mein Herz...", wisperte er und mein Herz schmolz dahin.

Am nächsten Morgen konnte ich Ryan zum Glück davon abhalten, mich mitten im Flur zu küssen, doch er bestand darauf, meine Hand zu nehmen, als wir zum Englischkurs gingen. Die Teamarbeit, die wir in Englisch machten, war nicht ganz so aufwendig gedacht wie die in Biologie und so würden wir bereits beim nächsten Mal unsere Ergebnisse vorstellen, was mich ein bisschen stresste. Ich war mir, obwohl ich das Buch schon zweimal vollständig gelesen hatte, nicht sicher, ob ich die Hauptfigur schon verstanden hätte. Ryan und ich vertieften uns in eine lebhafte Diskussion über sie, in die Mrs. Hobbs, als sie zu uns kam begeistert einstieg. Als die Stunde vorbei war, hatten wir endlich eine ordentliche Charakterisierung zusammen und ich fühlte mich, als sei mein Hirn einmal durch den Fleischwolf gedreht worden.

Tatsächlich rief die Nachricht, dass Ryan und ich anscheinen zusammen waren, erstaunlich wenig empörte Reaktionen hervor. Olive kam zu mir und meinte, sie würde uns viel Glück wünschen und sogar Steve, mit dem ich seit zwei Jahren nicht mehr geredet hatte, wechselte kurz einige wohlwollende Worte mit mir. Von den Cheerleaderinnen bekam ich zwar den ein oder anderen verständnislosen Blick zugeworfen, doch sie schienen sich damit abzufinden, dass wir zusammen waren.

Die nächsten Tage begann auch ich, mich damit abzufinden, dass ich nicht mehr unsichtbar war. Doch ganz wider mein Erwarten fand ich es nicht schrecklich, sondern sogar ganz in Ordnung. Ich redete ab und zu mit meinen Mitschülern über die Schule, die Lehrer, Hausaufgaben, kurz belanglose Dinge, die doch eine gar nicht so kleine Rolle in unserem Leben spielten. Ich war erstaunt, wie nett ich manche von meinen Mitschülern fand. Leute, die ich sowohl in den letzten zwei Jahren, in denen ich mich verkrochen hatte und mit niemandem geredet hatte, als auch in den Jahren zuvor, als ich immer nur mit Marc unterwegs war, gar nicht richtig gekannt hatte.

Mein anderes Leben, mein Zuhause in meinem Viertel und meine Arbeit im Dirty Love, versuchte ich so gut es ging von Ryan und meinen neuen Freunden fernzuhalten. Auch meine Geschwister versuchte ich zu beschützen. Ich machte mir immer mehr Sorgen um Tyler, ich hatte das Gefühl, er entzog sich mehr und mehr meiner Kontrolle. Es passierte immer häufiger, dass er spät nach Hause kam und mir dann nicht sagen wollte, wo er gewesen war. Auch verhielt er sich immer öfter aggressiv und ließ sich weder von mir noch von Mary etwas sagen. Ich wusste nicht, ob ich das einfach durch seine Pubertät erklären sollte, oder ob noch etwas anderes dahinter steckte und das machte mich hilflos.

Es ließ sich kaum vermeiden, dass Ryan immer mehr Details über meine etwas missglückte Kindheit und Jugend erfuhr, doch auch er konnte mir einige Geschichten erzählen, bei denen ich Gänsehaut bekam.

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt