Sport ist Mord

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Ich sah Ryan erst am Montag wieder. Wir saßen im Englischunterricht und er hatte wie immer sein überhebliches Lächeln aufgesetzt. Das verschwand jedoch, als uns unsere Lehrerin, Miss Hobbs, bat, unsere Hausaufgabe, die Analyse zu Edgar Allan Poes "The City in the Sea", abzugeben. Kurz musste ich schadenfroh grinsen, er hatte wohl vergessen, die Hausaufgaben zu machen. Das würde Ärger geben. Dann jedoch fiel mir auf, dass ich ihn schon wieder beobachtete, und ich wandte schnell den Kopf ab. Unwillkürlich musste ich wieder an Samstagnacht denken.

Es war fast halb zwei Uhr nachts gewesen, als ich endlich unsere Wohnungstür abschloss. Drinnen war alles dunkel und ich bemerkte Mary erst, als sie vom Sofa aufstand und vorsichtig auf mich zukam. Als sie näher kam, merkte ich, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war und sie noch immer vor sich hin schluchzte. Tausendmal fragte sie mich, was denn passiert sei und dass es ihr so leid täte, dass sie einfach davongelaufen war. Tausendmal antwortete ich, das nichts Schlimmes passiert sei und dass ich einfach nur ins Bett wolle. Sie half mir, das Blut von meinem Gesicht zu waschen und mich auszuziehen. Dann legten wir uns schlafen. Obwohl mein Kopf in Aufruhr war, war mein Körper erschöpft genug, um mich beinahe sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken zu lassen.

Am nächsten Morgen stand Mary mit mir relativ früh auf und half mir, die Platzwunde neben meinem linken Auge zu überschminken. Ich wollte die anderen nicht beunruhigen. Obwohl Vater mir versprochen hatte, er würde auf die anderen aufpassen, war er irgendwann am Samstagabend verschwunden, zum Glück erst nachdem Tyler im Bett war, und er ließ sich auch den gesamten Sonntag nicht blicken.

Mutter hingegen hatte wieder einen schlimmen Tag. Ihre Schmerzen schienen schlimmer zu werden, aber wir trauten uns nicht, einen Arzt anzurufen. Wir waren bei Medicaid versichert, eine staatliche Versicherung, die die untereste Unterschicht abdeckte. Die harte Politik von Medicaid, dass man zuerst jegliche medizinische Leistungen, die man selbst bezahlen konnte, auch selbst bezahlen musste, führte dazu, dass wir trotzdem keinen Arzt rufen konnten. Wir kamen gerade so mit den Schmerzmitteln über den Tag, aber morgen musste ich Tyler oder Mary zur Apotheke schicken, damit sie neue holten. Ich musste nur daran denken, dass ich ihnen genug Geld gab.

So jedoch musste fast den gesamten Sonntag Mary, Tyler oder ich bei ihr sitzen und ihre Hand halten. Das waren die schlimmsten Augenblicke, wenn sie wieder eine Welle von Schmerzen überrollte und ich daneben saß und mit ihr litt. Es war so furchtbar, zu sehen, wie schlimm es ihr ging und genau zu wissen, dass ich ihr nicht helfen konnte.

So hatten wir den Sonntag verbracht. David und Lily hatten die meiste Zeit relativ friedlich im Wohnzimmer gespielt und sich um Finn gekümmert. Tyler, Mary und ich hatten uns bei Mutter abgewechselt und in der restlichen Zeit Hausaufgaben erledigt, für Arbeiten gelernt oder etwas Haushalt gemacht. Der erledigte sich ja leider auch nicht von selbst.

Am Montagmorgen hatte ich in aller Ruhe meine Blutergüsse am Bauch betrachtet, bevor ich unter die Dusche gestiegen war. Sie waren sehr groß, unübersehbar, und mir war schleierhaft, wie ich sie in der Mädchenumkleide am Nachmittag verbergen sollte, geschweige denn, wie ich damit den Sportunterricht überleben sollte.

Mary half mir wieder, mein Gesicht vorzeigbar zu schminken. Die Haut über meinem linken Wangenknochen hatte sich inzwischen tiefblau gefärbt und wir brauchten sehr viel Make-up bis wir den letzten bläulichen Schimmer verborgen hatten. Doch nun sah ich einigermaßen in Ordnung aus und stand mit den anderen auf, um meinen Aufsatz abzugeben. Auf dem Rückweg lief ich an Ryan vorbei und erlaubte mir ein spöttisches Grinsen, wobei ich zusätzlich noch meine linke Augenbraue hochzog. Er schnaubte nur und wandte sich Kyle zu, der neben ihm saß.

Der Englischunterricht verlief ohne weitere Ereignisse und bis nach der Mittagspause, die ich wie immer draußen verbrachte, obwohl es inzwischen schon furchbar kalt war, sah ich Ryan nicht mehr. Nach der Mittagspause hatten wir Sport. Ich war schon zehn Minuten vor allen anderen Mädchen in die Umkleide gegangen, weswegen niemand meinen Bauch sehen konnte, während ich mich umzog. Das hatte jedoch auch zur Folge, dass ich zehn Minuten zu früh in der Sporthalle stand. Seufzend lehnte ich mich an die Wand und wartete auf die anderen Schüler und meine Sportlehrerin. Um mir die Zeit zu vertreiben, summte ich leise ein Lied vor mich hin, was gestern im Radio gelaufen war. Ich wusste nicht, wie es hieß, aber die Melodie gefiel mir. In dem Moment, in dem ich fast noch angefangen hätte, zu singen, kam Ryan mit seinen beiden Freunden Kyle und Ian in die Sporthalle. Sofort verstummte ich und sah mich unbehaglich um, ob schon andere Schüler da wären, aber wir waren die einzigen. Ich hoffte nur, sie würden mich nicht beachten.

"Hey, was hast du da gesummt, Süße?" Mist, ich hatte wohl umsonst gehofft. Ich schaute auf und sah die drei auf mich zukommen. Ian, der mich das gefragt hatte, grinste mich an und lehnte seinen Arm neben mir an die Wand. Lässig stützte er sich ab. Ryan positionierte sich in fast derselben Pose auf meiner anderen Seite und Kyle stellte sich vor mich. Ich war eingekreist.

"Ach, nichts besonderes..." Verunsichert sah ich von einem zum anderen. Ich hatte es so lange geschafft, unsichtbar zu sein, wieso mussten sie jetzt auf mich aufmerksam werden?

"Ich habe dich am Samstag auf meiner Party gesehen", meldete sich nun Kyle zu Wort, "ich hoffe, es hat dir gefallen."

Irritiert blickte ich zu Ryan, das war doch bestimmt auf seinem Mist gewachsen. Doch er schaute mich nur mit einem gemeinen Funkeln in den Augen an.

"Nun ja, bis auf ein oder zwei nervende Idioten, von denen einer mich zu verfolgen schien, war es ganz in Ordnung." Kyle runzelte die Stirn.

"Deiner Schwester hat es ja offensichtlich ganz gut gefallen. Ich habe sie mit Louis zusammen gesehen. Ich hoffe, sie verkraftet es schnell, wenn er sie wieder fallen lässt, sie ist so ein hübsches kleines Ding..." Sein gieriger Blick und sein zweideutiges Lächeln sprach Bände. Automatisch ging ich in Angriffshaltung über. Wenn dieses Arschloch auch nur wagen würde, sie zu lange anzusehen... Doch bevor ich mich an einer bissigen Antwort versuchen konnte, strömten plötzlich wie auf Kommando andere Schüler und Schülerinnen in die Sporthalle. Fast wie nebenbei und doch ohne Verzögerung lösten sich die drei von mir und gingen zu ihren anderen Freunden.

Der größte Teil des Sportunterrichts war in Ordnung. Mein Bauch tat zwar bei jeder Bewegung weh, aber es ließ sich aushalten. Zuerst liefen wir uns eine Viertelstunde ein und machten dann in kleinen Gruppen Zirkeltraining. Am Ende wollte unsere Sportlehrerin uns noch ein kleines Abschlussspiel spielen lassen. Es war eine Mischung aus Football und einem normalen Abwerfspiel. Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir und so waren Ryan und ich in der gleichen Mannschaft.

Eine kurze Zeit ging das gut, dann spürte ich plötzlich, wie er mich von hinten an den Oberarmen packte und mich als Schutzschild benutzte. Ich hätte nicht sagen können wieso, aber auf einen Schlag hatte ich eine Art Flashback. Schwarze Angst stieg in mir auf, ich meinte den kalten Hauch der dunklen Straße zu spüren, auf deren Asphalt ich erst letzten Samstag zusammengeschlagen worden war. Übelkeit stieg in mir auf und bevor ich nachdenken oder mich wieder beruhigen konnte, riss ich meinen Ellbogen zurück und hieb ihn Ryan mit aller Kraft in den Bauch.

Er keuchte kurz auf und zuckte zusammen, doch bevor unsere Sportlehrerin das Spiel unterbrechen konnten, hatte er sich wieder aufgerichtet, mich an der Schulter herumgewirbelt und hämmerte mir seine Faust in den Magen. Der Schmerz loderte auf, als wäre er nie weg gewesen. Ein kehliger Schrei entwich mir, bevor ich ihn zurückhalten konnte. Er hatte mich nicht festgehalten und so stolperte ich einen Schritt zurück und setzte mich unelegant auf meinen Hintern. In Wellen wanderte der Schmerz von meinem Bauch aus in den Rest meines Körpers. Obwohl ich versuchte, sie zurückzuhalten, traten mir Tränen in die Augen.

Meine Sportlehrerin hatte das Spiel abgepfiffen und war schnell zu mir gelaufen. Nun kniete sie sich vor mich hin und versuchte gleichzeitig, mich zu beruhigen und Ryan zu beschimpfen, dass er mich geschlagen hatte. Ich wollte sie davon abhalten, mein T-Shirt hochzuziehen, doch mein Protest verklang ungehört. Ich hörte sie nach Luft schnappen und wusste, dass sie die Blutergüsse gesehen hatte. Ich blickte auf und sah meinen gesamten Sportkurs um mich versammelt. Sie alle schauten einigermaßen geschockt, doch das Einzige, was ich wirklich wahrnahm, war Ryans Gesicht und sein entsetzter Blick. 


So das wars mal wieder, ich hoffe, es gefällt euch. Schönes Wochenende euch noch ;)

The dark inside meWhere stories live. Discover now