Coming Home

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Ende Februar war es so weit. Es hatte sich durch nichts angekündigt, trotzdem hatte ich zumindest unterbewusst sehr stark damit gerechnet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Leben so schön sein konnte und so bleiben würde. So funktionierte mein Leben einfach nicht.

Es war mitten in der Grippezeit und Tyler lag mit Fieber im Bett. Auch Lily hatte über Kopfschmerzen und Schnupfen geklagt und ich nahm mir einen Tag Auszeit von der Schule, um mich um sie zu kümmern. Außerdem fühlte ich mich auch nicht besonders gut.

Am Abend hatte Lily zweimal gespuckt, sie hatte sich zusätzlich noch einen Magen-Darm-Virus eingefangen, und ich hatte das Gefühl, die ganze Wohnung würde nach Erbrochenem riechen. Tylers Fieber war gestiegen und er lag ziemlich apathisch im Bett. Als David nach Hause gekommen war, hatte er Husten gehabt und mir ging es inzwischen auch eindeutig nicht mehr gut. Mein Kopf fühlte sich an, wie mit Watte gepolstert und ich fror die ganze Zeit, egal wie viel ich anzog.

Ryan hatte mich nach der Schule angerufen und gefragt, ob er vorbeikommen sollte, doch das hatte ich dankend abgelehnt. Er sollte sich nicht auch noch anstecken. Mary hatte nur kurz vorbei geschaut und war dann zu Louis gegangen. Sie hatte sich zum Glück noch gut gefühlt.

Gegen Acht Uhr abends stand ich in der Küche, um eine riesige Menge Wasser für Tee aufzukochen. Ich wusste, dass wir alle lieber einen leckeren Tee getrunken hätten, doch meine Vernunft siegte und so machte ich eine große Kann Salbeitee für uns alle.

Mary schloss einigermaßen pünktlich die Wohnungstür auf. Als sie reinkam, klang ihre Stimme verändert.

„Liz?", rief sie, „ich habe jemanden auf der Straße getroffen..." Ich runzelte die Stirn und mit ein paar Schritten stand ich im Durchgang zum Wohnzimmer. Dort stand Mary und hinter ihr, direkt neben der Tür, stand ein Mann.

Unterbewusst erkannte ich ihn sofort, auch wenn mein Gehirn etwas länger brauchte. Er war ein ganzes Stück gewachsen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, seine Schultern waren breiter geworden, muskulöser. Auch sein Gesicht hatte sich verändert. Es war ernster geworden und die linke Augenbraue war durch eine Narbe unterbrochen. Aber ansonsten war er derselbe.

„Marc", flüsterte ich, ich konnte es kaum glauben. Mein Bruder, mein Zwilling, meine zweite Hälfte war wieder da.

„Hey Liz", murmelte er und ich hatte das Gefühl, seine Stimme würde rauer klingen, als ich sie in Erinnerung hatte.

Ohne dass ich es wollte, traten mir Tränen in die Augen. Gleichzeitig spürte ich eine wahnsinnige Wut hochsteigen. Ich hatte ihn sein fast zwei Jahren nicht mehr gesehen und jetzt stand er einfach so wieder in der Tür.

„Weißt du, eine kleine Vorwarnung wäre ganz nett gewesen...", sagte ich und war selbst erschrocken darüber, wie kalt sich meine Stimme anhörte.

„Es tut mir leid, ich...", versuchte Marc, sich zu verteidigen, „das war eine ziemlich spontane Entscheidung."

„Trotzdem hättest du wenigstens eine Nachricht schreiben können", giftete ich, „wofür hast du denn meine Nummer?" Marc kam auf mich zu, die Arme leicht erhoben, vielleicht wollte er mich beruhigen, doch es hatte eher den gegenteiligen Effekt.

„Was fällt dir überhaupt ein, hier einfach so wieder aufzutauchen?", inzwischen schrie ich fast, „Du bist vor zwei Jahren ohne ein Wort verschwunden und jetzt stehst du einfach so wieder hier und erwartest, dass ich das so hinnehme?" Durch mein Geschrei waren meine anderen Geschwister angelockt worden. Sie drängten sich in der Küche und trauten sich kaum ins Wohnzimmer, wollten aber trotzdem alles mitbekommen.

„Es tut mir leid", versuchte Marc es nochmal und versuchte, mich in die Arme zu schließen. Da knallten die Sicherungen bei mir durch. Als er versuchte, mich zu berühren, versetzte ich ihm eine Ohrfeige, dass es nur so klatschte. Noch im selben Moment tat es mir leid. Marc blinzelte ein paar Mal, dann sah er mich einigermaßen erstaunt an.

„Tja, ich schätze, das hatte ich verdient", meinte er ganz ruhig.

Diesmal konnte ich die Tränen nicht zurückhalten und obwohl ich immer noch sauer auf ihn war, ließ ich mich von ihm umarmen. Es war so vertraut und gleichzeitig so fremd, dass ich noch mehr weinen musste. Mein Bruder war zu mir zurückgekehrt.

Als er mich wieder losließ, schniefte ich immer noch ein bisschen und hatte inzwischen richtig starke Kopfschmerzen. Marc sah die anderen an. Leicht schüttelte er den Kopf.

„Ich weiß, das klingt wie ein verfluchter Klischeesatz, aber heilige Scheiße, seid ihr alle groß geworden...", meinte er. Ich musste unwillkürlich ein bisschen grinsen, Gott, wie hatte ich seine Flucherei vermisst. Ein Stich fuhr mir in den Bauch. Ich hatte ihn so vermisst. Es schien wie ein Traum, dass er auf einmal wirklich wieder da sein sollte.

Tyler wagte sich ins Wohnzimmer und betrachtete Marc schüchtern, als könne auch er nicht recht glauben, dass sein großer Bruder wieder da war. Marc betrachtete ihn seinerseits wohlwollend und bevor sie etwas sagen konnten, hatten sie sich schon in die Arme geschlossen.

Mary lächelte mich von der anderen Seite des Wohnzimmers an, das plötzlich irgendwie zu klein für uns alle wirkte. Da fiel mir ein, dass Marc ja auch Finn noch gar nicht kannte und ich lief schnell in Tylers Zimmer um ihn zu holen. Ich hatte ihn schon bettfertig gemacht und ins Bettchen gelegt, doch er schlief noch nicht, sondern lachte mich fröhlich an und so hob ich ihn heraus und trug ihn ins Wohnzimmer.

Dort wirbelte Marc gerade Lily herum und sie strahlte, wenn auch mit ein bisschen Vorsicht in den Augen. Marc Rückkehr war schöner als Weihnachten und Geburtstag zusammen für jeden von uns. Wir alle hatten ihn furchtbar vermisst.

Als Marc mich mit Finn auf dem Arm sah, wurde er schlagartig ernst. Bevor er irgendwelche wirren Vermutungen über seine Herkunft anstellen konnte, erklärte ich schon die ganze Geschichte um Finn.

„... jedenfalls ist das dein jüngster Bruder.", schloss ich. Finn sah Marc etwas befremdet an, als wäre er sich nicht sicher, ob er den Mann vor ihm kannte und mochte und ich ließ ihn lieber auf meinem Arm, anstatt ihn Marc zu geben.

„Vater hat Mama also betrogen", wiederholte Marc und als ich nickte, fluchte er schon wieder. „Dieses miese Schwein! Ich hoffe, er hält sich von euch fern?" Ich senkte den Blick. Es war mir unangenehm, darüber zu reden, trotzdem musste es wahrscheinlich sein.

„Ich glaube, wir müssen über eine ganze Menge reden...", meinte ich und lotste uns alle in die Küche, wo praktischerweise auch gerade der Salbeitee fertig gezogen hatte.

The dark inside meWhere stories live. Discover now