Father

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Den Rest des Vormittags ließ Ryan mich mit dem Thema in Ruhe, doch als wir uns in der Mittagspause wieder an unserem Stammplatz in der Bibliothek niederließen, kam er wieder darauf zurück.

„Das Abendessen gestern war furchtbar...", meinte er und fuhr sich durch die Haare, „es wäre so viel besser gewesen, wenn du da geblieben wärst." Ich musste schmunzeln.

„Ich bezweifle, dass deine Mutter mich gern da gehabt hätte, ganz zu schweigen von deinem Vater...", entgegnete ich. Er runzelte die Stirn.

„Aber für mich wäre es schöner gewesen..." Ich schüttelte leicht belustigt den Kopf, er war und blieb das Kind reicher Eltern. Manchmal störte es mich, dass er so sehr daran gewöhnt war, alles zu bekommen, was er wollte. Eine Weile schwiegen wir. Ich lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Das Glas war kühl und fühlte sich gut auf meiner warmen, gereizten Haut an. Ich merkte, dass Ryan mich beobachtete. Ich wandte den Kopf und blickte meinerseits ihn an. Langsam, als fürchtete er, dass ich wieder zurückzucken würde, hob er seine Hand und berührte mein zugeschwollenes Auge. Ich ließ es zu.

„Tut das weh?", fragte er und ich nickte. Der Schmerz war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen, doch es irritierte mich immer noch, dass ich gerade nur mit dem rechten Auge sehen konnte.

„Willst du mir wirklich nicht sagen, wer das war?" Ich seufzte. Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen. Andererseits hatte es mir gestern echt gutgetan, meine ganzen Probleme Ryan zu erzählen.

„Ich sehe doch, wie sehr dich das Ganze fertig macht", sagte Ryan. Er hatte nicht ganz unrecht. Ich hatte mich den Tag über kaum konzentrieren können. Ständig waren meine Gedanken abgeschweift, zu meinem Vater, zu letztem Abend, zu meiner Entscheidung und was ich heute Nachmittag vorhatte. Ich seufzte abermals. Vielleicht hatte Ryan recht und doch fürchtete ich mich davor, es auszusprechen.

„Mein Vater", ich zögerte, atmete tief durch, dann sprach ich es aus, „es war mein Vater. Er ist gestern Abend betrunken nach Hause gekommen und er hat... mich geschlagen." Ryan zog scharf die Luft ein. Ich senkte den Blick.

„Er war nicht immer so... Jedenfalls nicht ganz so schlimm. Ich weiß, dass er erst angefangen hat, so aggressiv zu werden, als er seinen Job verloren hat. Und der Alkohol macht immer alles noch schlimmer...", versuchte ich, die ganze Situation zu erklären. Ryan stöhnte auf.

„Oh Liz, warum hast du nicht schon früher darüber geredet? Wie oft ist das schon passiert?" Sein Arm legte sich um meine Schultern und ich lehnte mich, ohne groß darüber nachzudenken, an ihn, während ich über seine Frage nachdachte.

„Es ist doch nicht groß was passiert... Das war erst das zweite Mal, dass er mich geschlagen hat." Ich merkte noch während ich das sagte, dass ich versuchte, ihn zu rechtfertigen. Diese Erkenntnis war schmerzhaft. Aber er war schließlich mein Vater, musste ich ihn da nicht verteidigen und sei es nur gegenüber den Vorwürfen von Ryan? Der hatte besorgt die Augenbrauen zusammengezogen.

„Das nennst du, nicht groß was passiert? Oh Liz, es tut mir so leid... Kann ich dir irgendwie helfen?" Seine linke Hand griff nach meiner, die in meinem Schoß ruhte. Sanft nahm er sie und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Ich wäre am liebsten unter der Berührung erschauert. Mein Herz pochte und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg.

„Das ist lieb von dir, aber ich glaube, das muss ich alleine hinkriegen. Mary hat ihn gestern Abend aus der Wohnung geworfen und es wird kein nächstes Mal geben." Ich musste ihm ja nicht unbedingt erzählen, was ich machen würde, falls mein Vater wieder auftauchen würde. Er würde sich nur unnötig Sorgen machen. Ryan schien etwas einzufallen.

„War das auch dein Vater, der deinen Bauch so zugerichtet hat?", fragte Ryan unwillkürlich. Ich sah zu ihm hoch und bemerkte, wie Zorn in seinen Augen aufblitzte. Ich brauchte kurz, bis mir einfiel, wovon er redete.

„Nein, das war er nicht... Es war schon zu spät, als wir von Kyles Party nach Hause gegangen sind. Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber in meinem Viertel sollte man nachts nicht mehr unterwegs sein. Was glaubst du, was ich für einen Schrecken gekriegt habe, als ich dich da vorgestern auf der Straße habe stehen sehen..." Ryan runzelte wieder die Stirn.

„Sollte ich nur deswegen bei dir übernachten?", er hörte sich irgendwie ernüchtert an.

„Na ja", ich zögerte, „unter anderem. Ich wollte nicht, dass dir etwas passiert..."

Wieder leicht grinsend strich Ryan erneut über meine Hand. Seine eisblauen Augen sahen mich zärtlich an. Plötzlich bekam sein Gesicht einen verschmitzten Ausdruck.

„Sag mal, musst du diesen Freitag arbeiten, oder hast du Zeit?" Ich war verwirrt. Was hatte er vor?

„Ich fürchte, eher nicht. Ich glaube nicht, dass ich an einem Freitagabend freikriege, da ist immer am meisten los..." Ryan wirkte enttäuscht.

„Was willst du denn machen? Am Sonntag hätte ich Zeit", beeilte ich mich zu sagen. Nun lächelte er wieder.

„Ok, Sonntag geht auch. Aber ich verrate dir noch nicht, was wir machen. Das wird eine Überraschung..."

Nach der Schule ging ich nicht direkt nach Hause. Ich musste noch etwas erledigen, vor dem ich richtiggehend Angst hatte. Am liebsten hätte ich es einfach noch einen Tag aufgeschoben, doch ich wusste, dann würde ich es nie machen. Trotzdem musste es sein und je eher ich es hinter mich brachte, desto besser. Wenn Vater das nächste Mal betrunken nach Hause kam, musste ich vorbereitet sein.

Ziemlich genau um vier Uhr nachmittags betrat ich das „Fire Gun", einen Laden, der legal Kleinkaliber Schusswaffen verkaufte und unter der Ladentheke noch ganz andere Sachen. Ich kannte Billy, der den Laden führte, von früher, er war im ganzen Viertel eine halbe Legende. Ich hoffte nur, er würde mich nicht mehr erkennen. Ich brauchte eine Waffe, aber sie sollte nicht auf mich angemeldet werden und genau dafür brauchte ich ihn.

The dark inside meWhere stories live. Discover now