Dienstag

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Am nächsten Tag konnte ich kaum sitzen. Ich war morgens am Frühstückstisch versucht, nicht zur Schule zu gehen, aber dann hätte ich einen Geschichtstest verpasst und so kurz vor meinem Abschluss konnte ich mir das nicht leisten.

Ich hatte mir nach dem Aufstehen im Bad meine Rückseite angeschaut. Von den Oberschenkeln bis zu meinem unteren Rücken war die Haut rot und geschwollen, überzogen von brennenden roten Striemen. Im Stehen waren die Schmerzen auszuhalten, doch sobald ich mich hinsetzte, fühlte es sich an, als würde ich auf einem Nagelbrett sitzen. Die vielen Stunden in der Schule waren die Hölle für mich und so war ich froh, dass ich mich in der Mittagspause nicht hinsetzen musste, sondern mich auch einfach an meinen Lieblingsbuche stellen konnte.

Als Vater gestern endlich aufgehört hatte, hatte er mich in die Küche geschickt, um das Abendessen zu kochen. Ich der Küche hatte ich mich schwer atmend an den Herd gelehnt. Unwillkürlich fing ich an zu zittern und Tränen rollten mir über das Gesicht. Ich stemmte meine Hände in meine Seiten und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Ich musste das Abendessen machen, und ich musste meine Geschwister aus Tylers Zimmer lassen, wo Vater sie eingesperrt hatte, um nicht von ihnen gestört zu werden.

Ich brauchte einige Minuten, um die Schläge zu verdrängen. Dann wischte ich mir entschieden die Tränen aus dem Gesicht und öffnete die Tür zu Tylers Zimmer. Meine Geschwister saßen zusammen gedrängt auf Tylers und Davids Betten. Als ich die Tür öffnete sahen sie mich aus großen, ernsten Augen an. Ich versuchte, beruhigend zu lächeln, dann schickte ich Mary in die Küche zum Helfen, Tyler sollte lieber mit den anderen in seinem Zimmer bleiben, sie sollten Vater in diesem Moment nicht zu nahe kommen.

Das Abendessen verlief in eisigem Schweigen, sogar Finn schien die angespannte Atmosphäre zu spüren und gab keinen Laut von sich. Nach dem Abendessen stand Vater wortlos auf und verließ die Wohnung, nicht ohne sich aus meinem Geldbeutel den Lohn der letzten Woche zu nehmen. Obwohl ich stinksauer war, wagte ich es nicht, ihn daran zu hindern, zu deutlich spürte ich noch seinen Gürtel auf meiner Rückseite.

Nun stand ich draußen vor dem Schulgebäude. Es wurde immer kälter und ich fror erbärmlich in meiner dünnen Jacke. Es war bewölkt und windig, das perfekte Wetter für meine Stimmung. Egal welche Bewegung ich machte, mir tat alles weh. Im Stehen las ich mir nochmal meine Notizen durch. Nach der Mittagspause würde ich den Test in Geschichte schreiben und ich hatte keine Zeit gehabt, zu lernen. Nun blieben mir kaum noch zwanzig Minuten, um die wichtigsten Fakten zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in mein Kurzzeitgedächtnis zu prügeln. Ich wiederholte gerade die Schlacht von Camden, bei der die Amerikaner zahlenmäßig überlegen gewesen waren, von den Briten jedoch trotzdem vernichtend geschlagen worden waren, als sich jemand neben mich stellte.

Ohne aufzusehen wusste ich, dass es Ryan war. Ich seufzte. Mir stand wirklich nicht der Sinn nach einem Wortgefecht oder einem seiner Spielchen. Außerdem musste ich weiterlernen, wenn ich den Test bestehen wollte.

"Hey", begrüßte er mich. Ich biss mir auf die Unterlippe. Was zur Hölle wollte er?

"Hast du nichts besseres zu tun, als mich zu nerven?" Er schwieg eine kurze Weile und ich versuchte, mich auf die Fakten zu konzentrieren.

"Weißt du, vielleicht wollte ich mich gerade entschuldigen...", meinte er halblaut und offensichtlich beleidigt, "aber vielleicht überleg ich mir das nochmal anders."

Was sollte ich mit seiner Entschuldigung? Dass er mich geschlagen hatte, war bei weitem nicht das Schlimmste, was mir in den letzten Tagen passiert war.

"Warum lässt du mich nicht in Ruhe?", fragte ich geradeheraus. Gleichzeitig blickte ich auf und sah ihn zum ersten Mal an diesem Tag an. Er runzelte die Stirn. Die Sonne fiel auf sein Gesicht und plötzlich schien sich der Ausdruck in seinen Augen zu verändern.

"Weißt du, das macht mir einfach viel zu sehr Spaß..." Dann nahm er mir meinen Geschichtsordner weg. Aufgebracht sah ich ihn an. In seinen Augen blitzte der Schalk.

"Ryan, gib mir sofort meinen Ordner wieder!" Ich griff danach, doch er zog ihn weg.

"Ach, wieso denn? Brauchst du den noch?" Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Wie gern würde ich ihm sein überhebliches Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Kurz war ich versucht, dem Drang nachzugeben, doch dann rief ich mich zur Ordnung. Das würde sowieso nichts bringen. Ich atmete einmal tief durch, um mich zu beruhigen.

"Ryan, gib mir meinen Ordner wieder, ich muss gleich einen Geschichtstest schreiben..."

Er verzog den Mund zu einem noch breiteren Grinsen.

"Was bekomm ich dafür?" Jetzt war ich es, die die Stirn runzelte. Auf was war er denn jetzt schon wieder aus?

"Meine ewige Dankbarkeit!", sagte ich mit einer ordentlichen Portion Ironie in der Stimme. Er machte einen Schmollmund, was seine vollen Lippen ausgesprochen gut zur Geltung brachte.

"Das reicht mir nicht. Ich will mehr!" Ich seufzte nochmal, inzwischen war es wahrscheinlich eh zu spät, um noch irgendetwas in meinen Kopf zu bekommen.

"Dann behalt ihn eben..." Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und lief auf das Gebäude zu. Schlagartig war ich furchtbar müde. Es war einfach viel zu viel passiert in letzter Zeit, zu viele schlimme Sachen...

"Hey, warte doch!" Ryan hatte mich eingeholt und hielt mir jetzt meinen Ordner hin. Ich griff wieder danach und diesmal zog er ihn nicht weg.

"Tut mir leid. Du siehst irgendwie gestresst aus, geht es dir gut?" Ich schaute auf und die eisblauen Augen waren plötzlich erfüllt von Besorgnis. Ich war irritiert. Ich hätte niemals gedacht, so einen Satz aus seinem Mund zu hören. Gleichzeitig war ich erstaunt, wie genau er mich anscheinend angeschaut hatte. Denn er hatte recht, ich war blass, tiefe Augenringe zierten mein Gesicht und ich bewegte mich vorsichtig, da jeder Schritt wehtat.

Aber das würde ich zumindest vor ihm niemals zugeben. Also drückte ich den Rücken durch und erwiederte: "Klar, was sollte denn nicht stimmen?" Er zuckte mir den Schultern. Aber in seinen Augen sah ich, dass er sich nicht sicher war, ob er mir glauben sollte oder nicht.

Da ich inzwischen wirklich nur noch fünf Minuten hatte, bis ich im Geschichtsraum sitzen musste, verabschiedete ich mich von ihm und beeilte mich, ins Schulgebäude zu kommen. Der Test war eine totale Katastrophe... Ich konnte genau zwei Fragen beantworten. Da ich wenigstens irgendetwas hinschreiben musste, dachte ich mir schließlich Antworten aus. Trotzdem war mir klar, dass dieser Test nicht gerade zu meinen Glanzleistungen gehören würde.

Nachdem die Schule uns wieder in einen dunklen Nachmittag entließ, machte ich mich langsam auf den Weg zur U-Bahn-Station. Ich hatte genug Zeit und so trödelte ich ein bisschen. Ich kam an einer Apotheke vorbei. In diesem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich Mary kein Geld für Schmerzmittel gegeben hatte. Mutter musste es furchtbar gehen!

Gerade als ich die Apotheke betreten wollte, klingelte mein Handy. Mary war dran, sie klang gehetzt. Ich versuchte, sie zu beruhigen, da sie viel zu schwer atmete, als dass ich sie verstehen konnte. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, verstand ich endlich, was sie mir hatte sagen wollen.

"Liz, du musst sofort kommen! Mama geht es schlechter!"

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt