Little Talks

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Wir setzten uns um den Küchentisch, jeder mit seiner Tasse Tee vor sich. Marc roch einmal an seinem und schob ihn dann angewidert von sich. Er war allerdings auch nicht krank. Ich hingegen fühlte mich nach ein paar Schlucken schon viel besser.

„Vater ist...", ich überlegte, wie ich das ausdrücken sollte, „zum Problem geworden." Ich schwieg, sah Mary an, hoffte, dass sie das Problem weiter ausführen könnte. Sie tat mir den Gefallen.

„Er ist immer aggressiver geworden, selbst als Mama schon so krank war, hat er sie manchmal geschlagen", sie zögerte, „aber er hat nicht nur Mama geschlagen, auch uns..." Sie senkte beschämt den Blick. Marc blickte wieder zu mir, seine Augen waren wütend zusammengekniffen.

„Was ist passiert?" Er wollte es genau wissen. Ich seufzte.

„Am letzten Tag von den Weihnachtsferien war es besonders schlimm. Ich...", ich wollte es nicht schon wieder aussprechen. Man sollte meinen, es mache mir inzwischen nichts mehr aus, darüber zu reden, aber das stimmte nicht.

In dem Moment schaltete Tyler sich mit seiner jungen harten Stimme ein. „Er hat Liz fast bewusstlos geprügelt! Mary hat ihn mit einem Messer aus der Wohnung gejagt." Marc sah mich besorgt an.

„Am nächsten Tag habe ich mir bei Billy eine Waffe gekauft", erzählte ich weiter. Wenn, dann sollte Marc die ganze Geschichte erfahren. „Über eine Woche später ist er abends wieder hier aufgetaucht. Er war schon wieder sturzbetrunken. Ich habe ihm mit vorgehaltener Waffe klar gemacht, dass er hier nichts mehr zu suchen hat." Ich hatte mit aller Macht versucht, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken, als ich mit der schlanken silbrig glänzenden Waffe auf ihn zielte. Er hatte eine Weile und viel Schreierei meinerseits gebraucht, um zu verstehen, was ich von ihm wollte. Als er es endlich verstanden hatte, war er furchtbar wütend geworden. Doch Mary und Tyler hatten geschlossen hinter mir gestanden und zusammen hatten wir Vater toben lassen. Schließlich hatte er eingesehen, dass er uns nichts mehr sagen konnte. Zum Glück hatte ich darauf bestanden, dass er den Schlüssel hier ließ. Ein paar Tage später hatte er wieder vor der Tür gestanden, diesmal einigermaßen nüchtern und gebettelt, dass wir ihn reinlassen würden. Das hatte er mal sowas von vergessen können.

„Er ist noch einmal gekommen, aber seitdem nicht mehr", schloss ich und atmete erleichtert auf. Marc nickte langsam.

„Dieser Mann war schon immer ein Arschloch", meinte er grob. Ich schnalzte rügend mit der Zunge.

„Sprich nicht so über ihn, er ist immer noch unser Vater", versuchte ich, unseren Vater zu verteidigen. Als ich Marcs verbitterten Blick sah, beschloss ich, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

„Aber erzähl uns mal von dir. Was hast du die letzten zwei Jahre gemacht?", fragte ich ihn. Sein Blick glitt zu David und Lily.

„Ist eine lange Geschichte", meinte er ausweichend, „und manche Teile davon sind nicht für alle Ohren hier geeignet..." Ich folgte seinem Blick zu Lily und David. Schon wieder überkam mich das Bedürfnis, zu seufzen. Doch diesmal unterdrückte ich es und stand resolut auf.

„Liebes, wollen du und David nicht im Wohnzimmer Fernsehen schauen, während wir das Abendessen machen?", fragte ich Lily und sie und David nickten begeistert. Ich bat sie noch, sich mit der Sofadecke zuzudecken, dann hatte ich sie aus den Füßen. Tyler schickte ich zurück ins Bett, schon die paar Minuten hatten ihn sichtlich erschöpft. Ich folgte ihm und legte Finn in sein Bettchen, damit er endlich auch mal schlief. Wieder zurück in der Küche bei Mary und meinem verlorenen Bruder ließ ich mich erschöpft wieder auf die Küchenbank sinken, obwohl ich mich ans Kochen hätte machen müssen. Meine Beine taten weh und meine Motivation zum Kochen war total im Keller. Mary schien das zu spüren, denn sie stand an meiner Stelle auf.

„Bleib du doch noch was sitzen, ich fang schonmal an zu kochen", meinte sie nur und ich lächelte sie dankbar an. Dann lehnte ich mich zurück und atmete mit geschlossenen Augen die Salbeidämpfe des Tees ein. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass Marc mich nachdenklich beobachtete. Ich versuchte mich an einem zaghaften Lächeln. Er hatte sich eindeutig verändert in den letzten beiden Jahren, aber das hatte ich auch. Konnten wir überhaupt jemals dieselbe Vertrautheit zurückgewinnen, die einst zwischen uns geherrscht hatte?

„Dann hast du also geschafft, was ich nie konnte", meinte Marc und es schien, als würde er mir unfreiwillig Bewunderung zollen. Ich zuckte mit den Schultern. Unwillkürlich beobachtete ich ihn. Ich wünschte, wir hätten ein bisschen Zeit für uns beide gehabt. Zeit, um zu erkunden, wie gut wir uns noch kannten, wie nah wir uns noch standen. Doch Mary war weiterhin in der Küche und in einigen Minuten würde es Abendessen geben. Etwas Zeit war uns nicht vergönnt. Wie viel Zeit blieb uns überhaupt? Mit einem Mal überkam mich die Angst, er könnte schon wieder von heute auf morgen verschwinden, als sei seine Rückkehr nicht mehr als ein schöner Traum gewesen.

„Wie lange bleibst du hier?", fragte ich und merkte, dass meine Stimme ein winziges bisschen zitterte. Auch meine Hände zitterten leicht und ich fasste die Tasse mit dem Tee fester. Marcs Blick lag auf mir und ich spürte, dass er wusste, was ich eigentlich fragen wollte: Wirst du mich wieder allein lassen?

„Ich weiß es noch nicht genau. Wahrscheinlich eine ganze Weile, wenn das in Ordnung ist. Darf ich hier schlafen?", meinte er und ich nickte erleichtert. Er würde also nicht direkt wieder abhauen.

„Natürlich. Wenn das Sofa für dich in Ordnung ist?", sagte ich. Die beiden alten Betten von Lily und David hatten wir schon verkauft, seit sie in Mamas altem Bett schliefen.

Er nickte und wir schwiegen eine Weile. Ich fühlte mich unwohl. Ich wollte ihn so viele Sachen fragen. Was hast du in den letzten beiden Jahren gemacht? Warum bist du einfach so abgehauen? Warum hast du nicht mal mir erzählt, was du vorhast? Warum bist du nicht einmal zu Mamas Beerdigung gekommen? Warum bist du jetzt auf einmal wieder hergekommen? Aber ich hatte das Gefühl, diese Fragen würden eine Nähe erfordern, die wir zumindest jetzt noch nicht wiedererlangt hatten, falls sie jemals wieder zwischen uns herrschen würde. Wahrscheinlich würde ich in den nächsten Tagen mehr erfahren.

The dark inside meWhere stories live. Discover now