Was ich will...

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"Ich schätze, du bist Elisabeth Brooks."

Er sah verdammt gut aus, schoss es mir durch den Kopf und im selben Moment hätte ich mich für diesen Gedanken ohrfeigen können. Natürlich sah er gut aus! Er war der beliebteste und gleichzeitig berüchtigtste Junge der gesamten Schule, er hätte jedes Mädchen haben können, wenn er gewollt hätte. Selbstverständlich vögelte er nur die hübschen Mädchen, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, welche von den Cheerleaderinnen er zuletzt am Start gehabt hatte.

Immer noch um eine Antwort verlegen, starrte ich ihn weiter an. Er hatte breite, muskulöse Schultern, ein schmales und doch markantes Gesicht und helle, lockige Haare. Seine Haut war leicht gebräunt und sah unfassbar weich aus. So viel schöner als mein helles Kaffeebraun. Seine Augen waren eisblau und konnten einen mit einem einzigen Blick zerfetzen.

Schnell räusperte ich mich. Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.

"Ähm, schätze schon...", brachte ich schließlich heraus. Mir fiel auf, dass ich ihm noch nie so nah gewesen war. Und ich merkte, dass ich Angst vor ihm hatte. Er sah gut aus, er war beliebt, er war ein Arschloch! Und zu allem Überfluss waren seine Eltern auch noch beschissen reich. Absolut beste Kombi!

Ich sollte mich auf unser Thema konzentrieren.

"Also wir haben ja Populationsökologie, wir könnten uns diese Stunde eine Gliederung für die Präsentation und für den Aufsatz überlegen und aufteilen, wer welche Unterthemen vorbereitet. Dann können wir am Freitag schauen, wie weit wir gekommen sind."

Er schaute mich an, dann nickte er kurz und ich zog mein Buch zu mir her. In Gedanken atmete ich einmal tief durch. Vielleicht würde es doch nicht ganz so furchtbar werden, wie ich zuerst gedacht hatte.

Wir beschlossen, unseren Schwerpunkt auf Wachstumsmodelle von Populationen und K- und R-Strategen zu setzen. Ich würde die Wachstumsmodelle vorbereiten. Eine Weile arbeiteten wir still vor uns hin und ich konzentrierte mich ganz auf das Biobuch. Ich hatte mir das exponentielle Wachstum schon durchgelesen und Notizen gemacht und wollte nun mit dem logistischen Wachstum weiter machen, als ich bemerkte, das Ryan aufgehört hatte, zu lesen und zu unterstreichen und stattdessen mich anschaute. Ein paar Minuten lang schaffte ich es, ihn zu ignorieren, doch dann hielt ich es nicht mehr aus.

"Was ist los? Du sollst arbeiten, ich will eine gute Note kriegen!" Durch das ganze Adrenalin in meinem Blut war mein Ton pampiger geworden, als ich es beabsichtigt hatte.

Er legte nur den Kopf schief und betrachtete mich weiterhin. Da er keine Anstalten machte, mir zu antworten, schnaubte ich einmal böse und versuchte mich wieder auf das Populationswachstum zu konzentrieren.

Ich hatte nicht mal einen Absatz gelesen, als ich von seiner Stimme unterbrochen wurde.

„Du siehst gar nicht so schlecht aus. Warum bist du mir noch nie aufgefallen?" Geschockt sah ich auf. Hatte er mir gerade ein Kompliment gemacht? Auf seine Frage hätte ich ihm jedoch leicht eine Antwort geben können. Schwierig, jemandem aufzufallen, wenn man alles daran setzt, so unauffällig wie nur möglich zu sein.

Ein paar Sekunden verharrte ich in dieser Starre, unentschlossen, was ich entgegnen sollte. Ryan starrte zurück, seine blauen Augen erinnerten mich an einen tiefen See, oder zumindest an das Bild eines tiefen Sees. Es bedurfte meiner gesamten Selbstbeherrschung, als ich schließlich meinen Blick losriss. Erleichtert sah ich auf meine Hände. Was war bloß los mit mir? Was hatten seine Augen an sich, dass ich mich dermaßen in ihnen verlieren konnte?

Ich war noch damit beschäftigt, mich zu beruhigen und verlegen auf meine Hände zu starren, als sich eine von Ryans Händen in mein Gesichtsfeld schob. Federleicht berührten seine Finger meine Hand, strichen wie ein Lufthauch über die feine, silbrige Narbe, die sich geschwungen von meinem Handgelenk bis zu meinem ersten Daumengelenk erstreckte. Ich hielt still. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ryan unvermittelt grinste. Dann zog er seine Hand zurück. Ich atmete ein, als hätte er mir weh getan. Dadurch grinste er aus irgendeinem Grund noch breiter. Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr. Zum Glück nur noch wenige Minuten. Mit zitternden Finger packte ich meine Sachen in meine alte, abgerissene Tasche und hastete, sobald der Gong ertönte mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer.

Kurze Zeit später hatte ich das Mädchenklo erreicht und schloss mich in einer Kabine ein. Langsam atmete ich ein und aus, um mich zu beruhigen. Was zur Hölle war da gerade passiert? Ich konnte es kaum fassen. Warum, verdammt nochmal, hatte Ryan meine Hand gestreichelt? Und warum zur Hölle hatte ich es geschehen lassen, warum hatte ich die Hand nicht weggezogen, noch bevor er mich hätte berühren können? Überhaupt, was bildete sich dieser Dreckskerl ein, dass er mich einfach so anfasste? Kurz schüttelte ich mich. Okay, ich sollte mich wirklich beruhigen. Ich hatte nur noch ein paar Minuten, bis ich zur nächsten Stunde musste. Und im Grunde war ja gar nichts passiert...

Aus irgendeinem Grund musste ich in diesem Moment an Marc denken und mir fiel auf, wie sehr ich ihn vermisste. Mein lieber Bruder, mein Zwilling, der Junge, der mich am besten kannte. Was er wohl dazu gesagt hätte? Doch so schnell würde ich ihn nicht fragen können.

Marc hatte sich noch nie besonders gut mit unserem Vater verstanden. Nach einem besonders schlimmen Streit vor zwei Jahren war er ohne ein Wort verschwunden. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Sein Verschwinden war das Schlimmste gewesen, was mir bis dahin in meinem gesamten Leben passiert war. Auch dass er nach einem halben Jahr angefangen hatte, mir ab und zu kleine SMS auf mein Handy zu schreiben, war nur ein kleiner Trost. Meine zweite Hälfte war verschwunden und manchmal wusste ich heute noch nicht, wie ich ohne ihn leben sollte.

Dies war wieder so ein Moment, in dem ich ihn unglaublich vermisste und sich die Wunde, die sein Verschwinden gerissen hatte, wieder ganz frisch anfühlte. Mit beiden Armen umklammerte ich meinen Oberkörper und durchlebte immer wieder schöne Erinnerungen mit ihm.

Als er wieder klingelte und ich die Toilette verließ, um mich zu meinem Englischkurs zu bewegen, hatte ich Ryan und seine seltsame Aktion schon fast wieder vergessen. Der restliche Schultag verlief normal. Ich hatte zwar noch Kurse, in denen Ryan auch war, doch er ignorierte mich wieder, wie er es sonst auch getan hatte und ich konnte wieder in meiner schweigsamen Unsichtbarkeit verschwinden.

Auch der restliche Tag verlief einigermaßen ereignislos, nachmittags arbeitete ich in einem Supermarkt und kam daher erst spät nach Hause. Am nächsten Morgen hatte erfolgreich verdrängt, dass ich mit Ryan Parker in Biologie eine Partnerarbeit machen musste

In der Mittagspause setzte ich mich vor dem Schulgebäude unter einen Baum und fing schon mal mit meinen Hausaufgaben an. Währenddessen aß ich mein Brot, das ich mir am Morgen gemacht hatte. Ich hatte nur Butter drauf geschmiert. Wir hatten nicht mehr besonders viel Aufstrich und es war mir wichtiger, dass meine Geschwister etwas Richtiges und Leckeres zu essen bekamen. Sie mussten noch wachsen.

Mitten in der Analyse von Edgar Allan Poes "The City in the Sea" merkte ich, wie sich jemand neben mich setze. Kurz dachte ich, es wäre Tyler, der wieder irgendetwas angestellt hätte, doch als ich aufblickte, sah ich nicht meinen jüngeren Bruder neben mir, sondern keinen Geringeren als Ryan Parker.

Er saß neben mir, als wäre es das Natürlichste der Welt, den Oberkörper entspannt an den breiten Stamm der Buche gelehnt, das Gesicht der Herbstsonne zugewandt, die noch ein bisschen Wärme spendete. Seine Haut schien zu leuchten.

Fassungslos starrte ich ihn von der Seite an. Er hatte mich zuvor nie beachtet, wieso sollte er auch? Aber warum jetzt auf einmal?

"Was willst du?", rutschte es mir heraus, bevor ich mich bremsen konnte. Erschrocken starrte ich auf den Boden. Was, wenn ich ihn verärgert hatte? Ich hatte schon gesehen, wie er ein Mädchen geschlagen hatte, das ihn genervt hatte.

Er bewegte sich neben mir. Vorsichtig blickte ich wieder auf. Er hatte sich aufgerichtet und sich mir zugedreht, seine Augen blickten direkt in meine.

"Das weiß ich selber noch nicht so genau."

Er zwinkerte mir zu, ließ den Ansatz eines Grinsens sehen, stand auf und ließ mich vollkommen verwirrt zurück.


The dark inside meWhere stories live. Discover now