Kapitel 55: Alles nur Einbildung?

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Es folgte eine lange Stille. Ich blickte Eric erwartungsvoll an, doch als er noch immer nichts sagte, fragten Susan und ich wie aus einem Munde: "Und?"
Erics Stimme zitterte, als er antwortete.
"Er.. Er liegt im Koma."

Ich spürte, wie die Hoffnung, die klitzekleine Hoffnung, die ich noch hatte, in sich zusammen fiel und mich zu Boden zu reißen drohte. Ich schüttelte den Kopf und konnte nicht damit aufhören. Auch wenn die Bedeutung von Erics Worte zu meinem Verstand durchgedrungen war, akzeptierte ich es nicht. Eric bemerkte, dass ich der Bewusstlosigkeit erneut nah war, und stützte mich.
"Estelle, gib nicht frühzeitig auf", redete er beruhigend auf mich ein.
"Immerhin.. naja, er lebt noch..", fuhr er fort, und ich bewunderte ihn dafür, dass er mich zu beruhigen versuchte, obwohl seine Angst genau so groß sein musste wie meine eigene.

Als wir keine fünf Minuten später im Auto saßen, fühlte ich mich leer. Ich saß auf der Rückbank und starrte aus dem Fenster. Ich konnte nur daran denken, wie unfair das alles war. Leise weinte ich vor mich hin, die Tränen wollten einfach nicht versiegen. Eric fuhr den Wagen, obwohl er wahrscheinlich in einer zu schlechten Verfassung war, um am Straßenverkehr teilzunehmen. Unter normalen Umständen. Doch das war nicht wichtig, denn die Umstände waren alles andere als normal. Susan saß am Beifahrersitz und schwieg. Ich konnte nur ahnen, was in ihr vorging. Emely schlief weiterhin friedlich auf dem Platz neben mir. 

Wir fuhren gut eine Stunde zu dem nahe des Flughafen gelegenen Krankenhaus. Während der Fahrt hatte es zu stürmen und regnen angefangen. Die lauten Regentropfen  waren die einzigen Geräusche während der gesamten Fahrt, die schwarzen Wolken schienen mich in meiner Trauer und Leere zu unterstützen.

Beim Krankenhaus angekommen suchte Eric ewig nach einem Parkplatz. Als wir schließlich einen gefunden hatten, stieg ich wie ferngesteuert aus dem Wagen und ging zusammen mit Noahs Familie mit langsamen Schritten auf das Krankenhaus zu. Am liebsten wäre ich gerannt, um schnellstmöglich bei Noah zu sein, doch meine Beine hatten kaum die Kraft, überhaupt zu gehen. Den peitschenden Wind, sowie den nassen, kalten Regen nahm ich in dem Moment kaum wahr. Es war nicht wichtig.

Durchnässt und mit klappernden Zähnen betraten wir das Krankenhaus, doch ich spürte die Kälte nicht. Ich spürte überhaupt nichts. Ob die Nässe auf meinen Wangen vom Regen oder von meinen Tränen kam, wusste ich nicht.

Eric erkundigte sich nach Noahs Zimmer. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis die Krankenschwester uns den Weg zur Intensivstation beschrieb. Dort angekommen mussten wir aus hygienischen Gründen spezielle Kleidung überziehen. Ich betrat gemeinsam mit Noahs leiblicher Mutter und seinem Adoptivvater das Zimmer, welches uns die Krankenschwester genannt hatte.

Zuerst dachte ich, wir hätten uns im Zimmer geirrt. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass die Person, die reglos in dem Krankenhausbett lag, Noah war. Susan ging es ähnlich, das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ich erschauerte, doch ich zwang mich, näher heranzutreten und hinzusehen. Noah war an ein duzend Geräte angeschlossen. Die Schläuche ragten ihm aus Mund, Nase und den Ärmeln seines Nachthemdes. Doch erst der Anblick seines Gesichtes ließ die Übelkeit in mir aufsteigen. Ich hatte Noah noch nie so elend gesehen, nicht mal nach seiner Operation. Keiner sagte ein Wort, die einzigen Geräusche bildeten die Maschinen, das Piepen hallte bedrohlich in meinem Kopf wider. Als ich meine Beine wieder unter Kontrolle hatte, überwand ich die Distanz zwischen Noah und mir, setzte mich auf einen harten Stuhl und ergriff seine Hand. Ich nahm mir Zeit, sein Gesicht eingehend studieren. Ein Teil war mit Verbänden bedeckt. Der sichtbare Teil war komplett geschwollen und voller Blutergüsse. Eine Wunde war halbherzig abgedeckt, doch ich konnte trotzdem sehen, wie tief sie ging. Sie bildete einen Kontrast zu seiner leichenblassen Haut. Eric und Susan schienen zu bemerken, dass ich einen Moment mit Noah alleine brauchte, denn sie verließen leise den Raum.

Als ich mit Noah alleine war, gingen die Emotionen mit mir durch. Ich ergriff seine Hand und umklammerte sie so fest, dass es weh tat. Tränen strömten über mein Gesicht, und ich zitterte am gesamten Körper. "Baby", schluchzte ich. "Tu mir das nicht an!" Keine Regung, nichts. Ich schaute auf seinen entstellten Körper, und ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Es würden definitiv Narben zurückbleiben. Falls er je wieder aufwacht, sagte ich mir und war selbst geschockt über den Gedanken. 

"Momentan können Sie nichts für ihn tun." Ich zuckte zusammen, denn ich hatte den Arzt nicht kommen hören. Er stand hinter mir und legte mir seine große, fleischige Hand auf die Schulter.
"Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen."
"Nein!" schrie ich und schüttelte den Kopf. "Nein nein nein."
Wie ein Mantra wiederholte ich dieses Wort. Als wollte ich Noah  beschwören, davon aufzuwachen. Ich schaute auf unsere verschränkten Hände. Meine mittlerweile verheilten Narben an den Handgelenken standen im Vergleich zu seinem frischen Wunden. Es wirkte fast, als würden sie ihn verhöhnen.

"Lassen .. lassen Sie mich bitte noch einen Moment mit ihm allein", bat ich den Arzt. Er nickte verständnisvoll, ließ seine Hand noch mehrere Sekunden auf meiner Schulter verweilen und verließ den Raum. 

 Die klitzekleine Bewegung von Noahs Zeigefingers schreckte mich auf. Ich riss meinen Kopf, der vorher noch zur Tür gerichtet war, herum, und blickte wieder auf unsere Hände. Da, erneut ein kleines Zucken. Hoffnung überflutete mich. Seine Augenlider flatterten. "Oh mein Gott", schluchzte ich voller Hoffnung und Überwältigung. Meine Stimme brach.
"Estelle", flüsterte er, kaum hörbar.
"Ich bin da."
Ein leises Stöhnen, Noah formte Worte, doch sie fanden keinen Weg nach draußen. 
"Bleib bei mir", flehte ich. "Bitte bleib bei mir."
"Es ist okay.", flüsterte er. "Ich bereue nichts."
Das waren seine Worte, bevor er erneut in einen tiefen Schlaf fiel. Nur die Geräte verrieten, dass er noch lebte.   

Wenige Sekunden lang blieb ich fassungslos auf meinem Stuhl sitzen, bevor ich zur Zimmertür stürmte. "Arzt", brüllte ich. "Ich brauche einen Arzt!"
Der Arzt, der eben noch mit mir bei Noah war, unterbrach das Gespräch mit Susan und Eric und kam herbeigeeilt.

"Er war gerade da. Bei Bewusstsein, meine ich", meine Worte überschlugen sich beinahe. "Er hat mit mir gesprochen!"
Der Arzt ging schnellen Schrittes an mir vorbei und leuchtete Noah mit einer kleinen Lampe in die Augen.
"Er war ganz kurz bei Bewusstsein und hat gesagt, dass.."
Als ich den mitleidigen Gesichtsausdruck des Arztes sah, hielt ich inne.

"Ich verstehe, dass Sie sich das sehr wünschen, Mädchen", sagte er und sprach so langsam und deutlich, als wäre ich ein Kind. "Und wenn man sich etwas ganz doll wünscht, kann es schon mal sein, dass man denkt, es würde wahr werden."
"Nein!", rief ich entrüstet. "Ich habe mir das nicht eingebildet!"
Eric legte sanft seinen Arm um mich. Der Hoffnungsschimmer, den ich eben in seinen Augen gesehen hatte, war verschwunden. Stattdessen erkannte ich nur eine völlige Leere. "Wir sollten besser nach Hause gehen, Estelle", sagte er beruhigend. "Wir verstehen das, du bist müde und traurig .."
Tränen der Wut standen in meinen Augen, und ich wand mich schnell aus Erics Umarmung.
"Ihr glaubt mir nicht? Wie könnt ihr es wagen? Ich weiß doch, was ich gesehen habe!" Ich hörte, dass meine Stimme laut und schrill klang, und mein Gesicht vermutlich wutverzerrt war, doch das war mir egal.
"Es tut mir leid, Estelle, aber nach dem, was der Arzt uns gesagt hat, ist es leider nahezu unmöglich." Erics Stimme brach, und er schluchzte auf. Susan lehnte an der Wand und weinte ebenfalls.
Entsetzt fiel mein Blick auf den Arzt. "Was wissen Sie, was ich nicht weiß?", fragte ich mit zitternder Stimme.

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Endlich habe ich den Prolog eingebracht. Ich musste ihn aber leider minimal abändern 🙈

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 19, 2017 ⏰

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