Kapitel 36: Böse Vorahnung

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Am nächsten Tag holte Noah mich von der Uni ab. Ich stieg in seinen kleinen, vertrauten Wagen und wir machten uns auf den Weg zum Einkaufszentrum. Dort kauften wir neue Croissants und Kekse für die Hütte, außerdem spendeten wir alte Kleidung. Zusätzlich kauften wir veschiedenes Gemüse und Fleisch, abends wollten wir zusammen kochen. Im Zentrum entdeckte Noah außerdem eine kleine Fotobox. Wir zwängten uns hinein und schnitten lustige Grimassen, während die Kamera Fotos schoss. Auf einem Bild streckten wir frech die Zunge raus, auf einem anderen blickte ich lachend in Noahs Richtung, da dieser mich gekitzelt hatte und auf einem weiteren küssten wir uns. Es waren schöne und lustige Erinnerungen und wir steckten beide einen Fotostreifen ein.
Gerade als wir das Zentrum verlassen wollten, stießen wir auf Lola. Ihre pinke Haarsträhne passte perfekt zu ihren hohen, pinkfarbenen Schuhen. Dazu trug sie eine schwarze Lederjacke und lilafarbene Leggins. An jedem anderen hätte das Outfit vermutlich albern ausgesehen, doch an Lola sah es genial aus. An ihr sahen die schrägsten Kombinationen gut aus.
Sie war mit einem Jungen unterwegs, den ich flüchtig kannte, er war in unserer ehemaligen Parallelklasse gewesen, doch ich hatte nie sonderlich viel mit ihm zu tun gehabt. "Estelle!", rief Lola freudig, als sie mich entdeckte und zog mich in eine rasche Umarmung. "Hey Noah", begrüßte sie auch diesen. Als ich fragend eine Augenbraue hoch zog huschte ein schuldbewusster Ausdruck über Lolas Gesicht - zu recht! Warum hatte sie mich nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie ein Date hatte? "Das ist David", stellte sie den attraktiven Jungen vor. Sie wirkte für ihre Verhältnisse ungewöhnlich verlegen. David war groß und hatte schwarze Haare. "Du kennst ihn sicher noch", fügte sie an mich gewandt hinzu. "Er war im Basketball Team unserer alten Schule."
"Ich erinnere mich", bestätigte ich und begrüßte David höflich. Er machte einen anständigen Eindruck. Ich erinnerte mich, dass er und Ryan sich nie gut verstanden hatten, was ihn gleich noch sympathischer machte. Und ich freute mich wirklich für Lola, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihr gefiel, - ich muss zugeben, dass ich sie, seit ich Noah kannte, ein wenig vernachlässigt hatte - obwohl ich gleichermaßen ein wenig enttäuscht war, dass sie mich nicht darüber informiert hatte. Die beiden wollten zusammen ins Kino gehen, und so verabschiedeten wir uns schnell.

Nachdem wir das Proviant zur Hütte gebracht hatten, fuhren wir zur Wohnung von Noahs Vater. Susan war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte uns kurzfristig zum Essen eingeladen. Sowohl Noah als auch ich waren ziemlich erstaunt, doch wir nahmen die Einladung gerne an. Unseren Kochabend mussten wir zwar verschieben, aber das nahmen wir bereitwillig in Kauf.
Susan sah besser aus als erwartet. Sie war noch immer ziemlich blass und sah niedergeschlagen aus, doch sie hatte sich schick gemacht. Sie trug ein lockeres Kleid, welches ihrer zierlichen Figur schmeichelte, und hatte ihre Haare zu einem Zopf geflochten. Ich merkte ihr wieder einmal an, wie jung sie noch war. Sie zog Noah und mich in eine unbeholfene Umarmung, und ich merkte, wie dieser sich versteifte. Wir setzten uns an den Tisch, während Susan diesen deckte. "Ich habe Lilly auch eingeladen, doch sie wollte nicht kommen", erklärte Susan. Man merkte, dass ihr das schlechte Verhältnis zu ihrer Tochter sehr zusetzte. Doch nach allem, was ich über ihre Vergangenheit erfahren hatte, konnte ich gut nachvollziehen, warum Lilly sich so verhielt. "Gib ihr Zeit", riet Noah.
Susan hatte Reispfanne mit Gemüse zubereitet. Das Essen war kalt und etwas versalzen, doch ich bemerkte, dass sie sich Mühe gegeben hatte, und so sahen wir über die kleinen Mängel hinweg. Sie fragte befragte mich über meine Familie und das Studium. Sie wirkte etwas unbeholfen, gab sich aber größte Mühe. Nichtsdestotrotz stellte ich mir ohne es zu wollen immer wieder vor, wie diese Frau vor vielen Jahren ihre Kinder geschlagen und vernachlässigt hatte. Sie hatte sie alleine zurückgelassen, um Drogen zu nehmen. Das war in meinen Augen unverzeihlich, doch Noah schien die Vergangenheit weitestgehend überwunden zu haben. Eine weitere Fähigkeit, die ich an Noah bewunderte und liebte. Anstatt sich von der Vergangenheit überwältigen zu lassen oder von einer perfekten Zukunft zu träumen, konzentrierte er sich auf die Gegenwart. Er genoss den Moment und ließ sich jeden Tag aufs Neue überraschen, was das Leben mit ihm vorhatte. Noah besaß die Fähigkeit, zu leben.

Nachdem ich Susan beim Abwasch geholfen hatte, verabschiedeten Noah und ich uns. Wir wollten zu ihm nach Hause fahren, um einen Harry Potter Marathon zu machen. Dass wir beide die Filme schon unzählige Male gesehen hatten, spielte keine Rolle. In der Einfahrt trafen wir auf Eric, welcher von der Arbeit kam. Er trug einen Maxi Cosi, in dem Emely lag. Für Emely hatte Eric mittlerweile eine Nanny arrangiert. Sie kümmerte sich tagsüber, während Eric in seinem Restaurant arbeiten ging, um das kleine Mädchen.
"Hey, ihr zwei", begrüßte Eric uns höflich. "Wie geht es euch?"
Gerade als ich zu einer Antwort ansetzte, spürte ich, wie Noahs Hand aus meiner glitt. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, hörte ich einen dumpfen Aufprall.
"Noah!", schrie ich und stürzte panisch zu meinem am Boden liegenden Freund. Er regte sich nicht; er war bewusstlos. Ich schüttelte ihn ein wenig, unwissend, was ich tun konnte. Ich war völlig hilflos.
Eric erwachte aus seiner Schockstarre und schob mich sanft beiseite. Sein Handy klemmte zwischen Ohr und Schulter, um den Krankenwagen zu alamieren. Er schilderte ihnen die Lage und gab die Adresse durch.
"Scheiße. Hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht", murmelte Eric, während er Puls und Atmung überprüfte. Er atmete erleichtert auf, als er den Puls fand und brachte Noah in die stabile Seitenlage.
"Was redest du da?", fragte ich.
"Hast du die letzten Tage irgendwelche Symptome beobachtet?", wollte Eric wissen und überging so meine Frage.
"Er hat ab und an über Schwindel geklagt und wirkte erschöpft.."
"Warum zum Teufel hast du ihn nicht zum Arzt gebracht? Oder wenigstens mich informiert?", fuhr Eric mich an. Perplex starrte ich ihn an, sein Tonfall ängstigte mich.
"Ich hätte doch nicht ahnen können, dass es etwas derart Ernstes ist. Er hat gesagt, es sei alles nur der Stress, und das fand ich naheliegend.."
"Moment mal." Erics Augen weiteten sich schockiert, als er etwas zu begreifen schien. "Noah hat es dir überhaupt nicht erzählt! Du hast keine Ahnung, oder?"
"Wovon redest du?", fragte ich gleichermaßen irritiert und panisch. Meine Stimme zitterte unüberhörbar.  "Was ist los, Eric?" Ich stellte die Frage, obwohl ich mich vor der Antwort fürchtete. Eine leise Vorahnung beschlich mich. Eine grauenvolle Vorahnung. Bitte, lass mich unrecht haben, flehte ich. Ich schloss die Augen und wappnete mich für Erics nächste Worte. Doch sie rissen mir nichtsdestotrotz den Boden unter den Füßen weg.
"Noah ist krank, Estelle. Schwer krank.", bestätigte Eric meine böse Vorahnung. "Er hat Krebs."

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt