Kapitel 33: Theodor

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Ich wusste nicht, wohin wir fuhren. Noah hatte einen Block und Stifte, sowie Proviant, eine Schaufel und eine Decke in einen Rucksack gepackt. Er wollte mir nicht verraten, was wir heute unternehmen würden, und ich ließ mich bereitwillig überraschen. Wir fuhren ein Stück und gelangten schließlich zu einem nahe gelegenen, kleinen Park. Auf den Wiesen blühten die Blumen und die Bäume waren voller Blüten und Knospen. Es war ein warmer Tag im März, und es genügte, ein Shirt mit Strickjacke zu tragen. Noah breitete die Decke auf der grünen Wiese aus, und wir setzten uns und genossen die strahlende Sonne. Wir aßen Sandwiches und Obst und tranken Saft, es war ein richtiges Picknick. Anschließend machten wir Bilder zusammen und hielten so die besonderen Augenblicke fest. Wir lachten viel, und ich hatte den Eindruck, dass Noah seine Probleme für einen kostbaren Moment vergessen konnte. Nachdem wir ein paar Stunden in dem Park verbracht hatten, schlug Noah vor, einen Spaziergang zu machen. Ich willigte ein, und wir gingen in einen Wald. Dort liefen wir einige Minuten und sprachen über das Leben nach dem Tod. Auf seine Frage, ob ich daran glaubte, antwortete ich wahrheitsgemäß. "Früher habe ich daran geglaubt, aber mittlerweile .. ich würde es gerne glauben, ich finde die Vorstellung, dass da nichts ist, ehrlich gesagt ziemlich gruselig. Außerdem fände ich es schön zu wissen, dass Theodor an einem schönen Ort ist, an dem er die Möglichkeit bekommt, weiterzuleben. Er ist einfach viel zu früh gestorben, er hat nichts gesehen von der Welt." Die Gedanken an meinen vor einigen Jahren verstorbenen Zwillingsbruder schmerzten. "Aber da es sich biologisch nicht erklären lässt, glaube ich nicht an ein Leben nach dem Tod. Was ist mit dir? Glaubst du daran?"
"Ich weiß es nicht", erwiderte Noah schlicht. "Und ich werde es nicht wissen, bis es so weit ist. Es kann sein, dass die Seele irgendwo weiterlebt, wer weiß? Schau dich um, hier ist überall Leben." Noah deutete auf die blühenden Wiesen und die am Himmel kreisenden Vögel. "Irgendwo ist all das Leben hergekommen, und irgendwo geht es nach dem Tod hin. Vielleicht in eine andere Welt. Vielleicht auch nicht. Ich lasse mich überraschen, da es ohnehin keine Möglichkeit gibt, zu überprüfen, was nach dem Tod passiert, bevor man stirbt."
Seine Meinung überraschte mich, doch je länger ich über das Gesagte nachdachte, desto klarer wurde mir, dass Noah absolut recht hatte.

Nach einer guten halben Stunde machten wir eine Pause. Wir setzten uns auf eine Bank, und Noah holte den Block und die Stifte aus seinem Rucksack hervor. "Erinnerst du dich noch an unseren Punkt auf der Liste 'Einen Brief schreiben und unter der Erde vergraben'? Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt", sagte er lächelnd. "Wir beide schreiben einen Brief an jemanden und vergraben ihn, ohne ihn dem anderen zu zeigen. Abgemacht?"
Ich nickte, und Noah reichte mir ein Blatt Papier und einen Stift. Ich brauchte nicht lange zu überlegen, an wen ich den Brief richten würde. Und so schrieb ich:

Lieber Theodor,
ich weiß nicht, ob du diesen Brief irgendwie lesen kannst. Ich würde dir diese Dinge liebend gern persönlich sagen, doch leider hast du uns viel zu früh verlassen. Ich durfte nur wenige Jahre mit dir erleben. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, warum du derjenige warst, der sterben musste, und nicht ich. Bis heute weiß ich keine Antwort auf diese Frage. Doch ich habe aufgehört, darüber nachzudenken, denn leider kann man manche Dinge nicht ändern, und muss annehmen, was das Leben bringt. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du jetzt an einem besseren Ort bist, wo du die Chance bekommst, du selbst zu sein. Bis vor kurzem habe ich nicht daran geglaubt, doch ich habe einen gewissen Jungen getroffen, der meine Einstellung ein wenig geändert hat. Noch vor wenigen Monaten war ich ein Mensch mit Vorurteilen. Ein Mensch, der seine Mitmenschen in Schubladen gesteckt hat. Ein Mensch, der nie den Moment, sondern immer nur für die Zukunft gelebt hat. Das alles hat Noah geändert. Du hättest ihn bestimmt gemocht. Denn dieser Junge hat mir beigebracht, Spaß zu haben, und mir gezeigt, dass es wichtig ist, jede Sekunde, die man hat, zu nutzen. Er hat mir beigebracht zu leben. Und ab jetzt, Theodor, werde ich jeden Moment für dich mit leben. Du hast nicht die Chance auf dieser Erde bekommen. Ich schon. Und ich werde sie nutzen, für dich und auch für mich selbst. Das Leben ist zu kostbar und zu kurz, um es zu verschwenden. Ich trage dich im Herzen, das habe ich immer, doch erst jetzt wird es mir wirklich bewusst. Du bist immer bei mir.
In Liebe, deine Zwillingsschwester Estelle

Ich hatte nicht viele Erinnerungen an meinen verstorbenen Bruder, und diese verblassten mit der Zeit immer mehr. Immer seltener dachte ich an ihn, und es bereitete mir weniger Schmerzen, zurück blieb nur eine dumpfe Leere. Vielleicht ist an dem Spruch, dass Zeit alle Wunden heile, wirklich etwas dran. Zuerst denkt man, dass man den Tod einer geliebten Person nicht verkraften kann, doch nach ein paar Jahren nimmt man sich nicht mal mehr die Zeit, an denjenigen zu denken. Vielleicht ist unsere Zeit zu kurz, um in der Vergangenheit zu schwelgen, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass mein Bruder war ein Mensch gewesen ist, Teil dieser Welt. Er verdiente, dass man an ihn dachte, öfter als nur an seinem Todestag. Und er verdiente, dass man für ihn lebte, jeden und jeden Tag, ganz einfach, weil er nie die Möglichkeit dazu bekommen hatte. An diesem Tag, nach meinem Gespräch mit Noah über den Tod, wurde mir wieder einmal bewusst, wie kostbar das Leben war. Jede Sekunde zählte.

*

In der Zwischenzeit hatte auch Noah seinen Brief fertig gestellt. Für einen Moment hatte ich mich so auf meinen eigenen Brief konzentriert, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich mit Noah auf einer Bank im Wald saß. Ich wusste nicht, was Noah geschrieben hatte, geschweige denn an wen. Doch das war gut so, schließlich hatte jeder seine Privatsphäre. Noah faltete seinen Brief sorgfältig zusammen, ganz vorsichtig, fast so, als hätte er Angst, ihn kaputt zu machen. Dann schaute er mich an. Sein Blick verriet, dass das Schreiben des Briefes ihn emotional mitgenommen hatte, auch wenn er es zu überspielen versuchte.
"Fertig?", fragte er mich und versuchte sich an einem Lächeln. Ich nickte. "Gut. Ich bin auch so weit. Dann müssen wir ihn jetzt vergraben." Er holte die Schaufel aus seinem Rucksack und begann zu graben. Ich sah ihm schweigend zu. Nach gut fünf Minuten legte er seinen Brief in die Mulde, ich tat es ihm nach. Schnell schaufelte er Erde darüber und strich sie glatt, sodass niemand ahnte, welche kostbaren Worte dort vergraben lagen.
"Merk dir die Stelle, Estelle. Nur für den Fall, dass wir die Briefe nochmal brauchen."
Er schaute mich eindringlich an, und ich nickte, doch zu dem Zeitpunkt war mir nicht klar, was er mir damit sagen wollte. Das begriff ich erst viel, viel später.

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt