Kapitel 18: Sternenhimmel

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Meine Schwester und ich unterhielten uns noch die halbe Nacht. Schließlich hatten wir uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen, und es gab viel zu berichten. Josie erzählte von Enzo, einem lebenslustigen, jungen Mann, der sich sein Geld mit Theaterspielen verdiente. Aus ihren Erzählungen heraus erinnerte er mich ein wenig an Noah.
"Liebst du ihn?", fragte ich sie schließlich.
"Nein", antwortete sie hastig, doch dann zögerte sie und korrigierte sich: "Also ich ... ich weiß nicht genau. Ich bin mit Ben verheiratet und ich liebe ihn, er bietet mir eine Perspektive und ist total lieb. Doch bei Enzo.. bei ihm kann ich ich selbst sein."
Ich wusste genau, was sie meinte, denn dasselbe erlebte ich bei Noah.
Josies Mann Benjamin war kein schlechter Kerl, er war anständig und konnte mit seinem Geld eine gesamte Familie ernähren. Ich dachte immer, dass er und meine Schwester gut zusammen passen würden, beide waren sie reif, intelligent, strebsam und stets höflich. Doch erst jetzt kam mir der Gedanke, dass Josie sich vielleicht nach etwas anderem sehnte als nur nach der Sicherheit, die Benjamin ihr bot.
"Du musst dir erst einmal über deine Gefühle klar werden und dann weiter sehen", riet ich ihr. "Und selbst ohne männliche Unterstützung wirst du eine tolle Mutter, da bin ich mir sicher."
"Danke, ich hoffe, du behälst Recht.", murmelte Josie und umarmte mich fest.

In den darauffolgenden Tagen saß der Schock über Josies Nachricht nicht mehr so tief, und meine Mutter beruhigte sich allmählich. Natürlich erlaubte sie meiner Schwester vorübergehend bei uns wohnen zu bleiben. Sie gab zu, dass sie überreagiert hatte, doch die Atmosphäre blieb nach ihren Anschuldigungen und ihrer unangemessenen Ausdrucksweise angespannt.

Als ich 3 Tage nichts von Noah gehört hatte, beschloss ich eines Abends zu ihm zu fahren. Ich vermutete - oder hoffte - dass er zu Hause war, und sich die vergangenen Tage nur nicht bei mir gemeldet hatte, weil er Angst hatte, dass ich Probleme mit meinen Eltern bekam.

Mal wieder öffnete Lily die Tür. Augenblicklich verdunkelte sich meine Miene, ich war wütend über ihre Lüge bei unserer letzten Begegnung. Mir war klar, dass sie viel durchgemacht hatte, doch das rechtfertigte ihr Verhalten nicht. "Oh, Estelle", fing sie an und lächelte herablassend. "Noah ist leider nicht.."
"Was bin ich nicht?", unterbrach ihr Bruder sie und trat ebenfalls in den Türrahmen. Meine Laune verbessert sich schlagartig. Lilly verdrehte nur die Augen und trat ohne ein weiteres Wort zurück ins Haus.
Noah bat mich ebenfalls ins Haus und ich folgte ihm in sein Zimmer.
"Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich war die letzten Tage ein bisschen im Stress, und außerdem wusste ich nicht, wie deine Eltern zu der ganzen Sache stehen", bestätigte Noah meinen Verdacht, und mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen.
"Es ist egal, was meine Eltern sagen, Noah. Sie haben mir nicht vorzuschreiben, mit wem ich meine Zeit zu verbringen habe."
"Okay, aber vielleicht solltest du.."
"Ich bekomme das schon geregelt, Noah. Und jetzt lass uns über etwas anderes sprechen."
Er akzeptierte den Themenwechsel und so überlegten wir, was wir den restlichen Abend noch machen konnten. Es war ein kühler  Novemberabend, doch für die Jahreszeit war das Wetter erstaunlich gut und der Himmel klar.
"Wir könnten zum Icetower gehen, und von dort aus Sterne beobachten", schlug Noah vor. "Dieser Punkt steht  auch auf unserer Liste, erinnerst du dich? Außerdem sind die Wetterverhältnisse heute günstig. Ich habe ein kleines Teleskop, das können wir mitnehmen."
"Das ist eine wundervolle Idee, Noah."

Zum Glück hatte ich eine dicke Jacke und einen Schal eingepackt, doch Noah gab mir trotzdem noch eine Strickjacke von sich. So würde ich ganz sicher nicht frieren. Er ging in den Keller der Wohnung, um sein handliches Teleskop zu holen und packte sich anschließend ebenfalls in dicke Klamotten, um mit mir zusammen die Wohnung zu verlassen. Diesmal bestand ich darauf, mit meinem Wagen zu fahren und Noah gab sich nach kurzem Protest geschlagen. Den Weg zum Icetower, einem Turm, der aus Marmor und Glas bestand und von weitem aussah, als sei er aus Schnee und Eis, wusste ich aus dem Kopf. Er lag eine gute halbe Stunde Autofahrt entfernt, ich war in meiner Kindheit des öfteren auf dem Turm gewesen. Er war schön und alt und hatte eine atemberaubende Aussichtsplattform, die uns einen Ausblick über die ganze Stadt ermöglichte.

Die Autofahrt ging aufgrund von meiner guten Playlist und der ruhigen Verkehrslage ziemlich schnell vorbei. Ich parkte den Wagen und Noah holte eine riesige Tasche vom Rücksitz. Ich hatte nicht bemerkt, dass er sie dort hingelegt hatte, und wusste auch nicht, was sich darin befand. Außerdem nahm er das Teleskop aus dem Kofferraum.
Es waren noch 5 Minuten Fußmarsch bis zum Turm, die wir in einem angenehmen Schweigen verbrachten. Inzwischen hatte sich der Himmel komplett verdunkelt, es war schätzungsweise 21 Uhr. Es hatte noch weiter abgekühlt, und so fror ich trotz meinen beiden Jacken. Wir stiegen die Steintreppe, die zur Aussichtsplattform führte, hinauf. Oben angekommen öffne Noah die Tasche und holte eine große Decke heraus, die er auf dem Boden ausbreitete. Danach reichte er mir eine weitere Decke. Dankbar nahm ich sie an und schlang sie um meinen Körper. Das Teleskop stellte Noah neben uns auf, anschließend reichte er mir eine Flasche Eistee, eine Tüte Chips, sowie einen Müsliriegel. Wir saßen eine Weile auf der Decke, aßen die Snacks und unterhielten uns darüber, wie wir die letzten Tage verbracht hatten.
Es war eine klare Nacht und der Sternenhimmel über uns war wunderschön. Wir legten uns dicht nebeneinander auf die Decke und suchten den großen Wagen, die Kassiopeia und weitere Sternbilder. Sterne, Planeten und das gesamte Universum hatten mich schon immer fasziniert, auch wenn ich mich nie intensiv mit dem Thema befasst hatte. Ich hatte mich immer nur mit Dingen beschäftigt, die mir in meiner Zukunft etwas bringen würden.

Nachdem wir ein paar Sternenbilder gefunden hatten, widmeten wir uns dem Teleskop. Noah stellte es ein und schaute hindurch. Anschließend  machte er mir Platz, so dass auch ich einen Blick durch das Teleskop auf den Sternenhimmel werfen konnte. Es war atemberaubend. "Hier siehst du den Planeten Jupiter", erklärte Noah leise hinter mir. Ich sah den Planeten unglaublich nah vor mir, es war, als würde ich mich selbst im Universum befinden. Ich konnte den Blick kaum losreißen, so überwältigt war ich. Noah lenkte das Teleskop auf andere Planeten und Sterne, und einer war faszinierender als der andere. Wir wechselten uns eine Weile lang ab und Noah erklärte mir viel über den Himmel und das Universum.
"Woher weißt du das alles?", fragte ich.
"Er interessiert mich einfach, also habe ich mir dieses Wissen angeeignet", erklärte er und brachte mich wieder einmal zum Staunen.

Wir legten uns wieder auf die Decke und Noah zog mich vorsichtig in seinen Arm. Bereitwillig kuschelte ich mich an ihn, und wir schauten eine Weile schweigend in den Himmel. Unsicher griff ich nach Noahs Hand, als im selben Moment eine Sternschnuppe den Himmel zierte.
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Vielen Dank für 100 Reviews, hat mich sehr gefreut. ♡♡ Mein letztes Kapitel hat sehr wenige Aufrufe, ich hoffe, dass sich das wieder ändert und ihr weiterhin meine Story lest :)

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt