Kapitel 22: Viele Fragen, keine Antworten

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Tatsächlich hatten Noah und ich unseren Streit schon aus dem Weg geräumt, bevor wir auch nur bei dem Café ankamen. Trotzdem suchten wir uns ein nahe gelegenes Café und setzen uns hinein.
"Und, wie läuft die Uni?", erkundigte sich Noah.
"Gut", antwortete ich knapp.
"Schön. Macht es dir Spaß?"
"Ja", log ich, da ich keine Lust hatte, mit ihm zu diskutieren. Ich meine, es war vollkommen in Ordnung und der Stoff nicht zu schwer, doch Gesetze und Rechte interessierten mich einfach nicht sonderlich. Im Gegensatz zu meiner Schwester und meinem Vater war ich nicht dazu bestimmt, Anwältin zu werden. Doch meine Familie hatte hohe Erwartungen an mich, und ich konnte sie einfach nicht enttäuschen.

"Und bei dir? Was macht die Arbeit im Restaurant von Mr Crowly?", wechselte ich das Thema.
"Alles super. Ich springe dann ein, wenn ich gebraucht werde und arbeite meistens an den Wochenenden. Das ist ja so oder so nur eine Übergangslösung, bis ich mir im Klaren bin, was ich wirklich will. Und es kann gut sein, dass ich in naher Zukunft in ein anderes Land gehen werde, Estelle, ich hoffe das ist dir klar."
"Ja. Ist mir klar", erwiderte ich leise. Sowas in der Art hatte Noah vor kurzem schon mal erwähnt, und der Gedanke daran, dass er mich schon bald verlassen könnte, schmerzte. Doch ich schob das Thema immer wieder von mir weg, denn im Stillen hoffte und glaubte ich, dass wir eine Lösung finden konnten, zusammenzubleiben. Ob hier oder woanders spielte dabei für mich keine Rolle. Ich war nicht an Marseille gebunden und hatte selbst schon überlegt, mein Studium in einem anderen Land fortzusetzen.

"Estelle?", fragte Noah, und tatsächlich huschte so etwas wie ein schüchterner Ausdruck über sein Gesicht. Ich wartete gespannt, bis er weiter sprach.
"Die Schule von Lily veranstaltet einen Weihnachtsball mit Familie und Freunden, und, nun ja, ich habe keine Begleitung. Möchtest du vielleicht mit mir hingehen?"
Ich war freudig überrascht, aber gleichermaßen auch skeptisch.
"Deine Schwester hasst mich. Und jetzt soll ich auf ihren Ball kommen?"
"Meine Schwester geht mit ihrem Freund hin, also machen wir nicht viel mit ihr zusammen. Außerdem hasst sie dich nicht, sie ist nur eifersüchtig. Also, gehst du mit mir hin?"
"Ja, gerne", antwortete ich nach kurzem Zögern, und Noah schenkte mir ein Lächeln.

Nachher fuhr ich auf direktem Weg zu Lola. Ich kam unangekündigt, und ihre Überraschung war dementsprechend groß.
"Wir müssen shoppen gehen", sagte ich zur Begrüßung.
"Wow, du kommst, ohne Bescheid zu sagen, ersparst dir jegliche Begrüßungsfloskeln und willst freiwillig etwas anderes machen als lernen. Gefällt mir, Estelle. Langsam aber sicher nehme ich Einfluss auf dein Verhalten."
"Wir müssen shoppen gehen", wiederholte ich, ohne auf ihre freundschaftliche Provokation einzugehen.
"Das sagtest du bereits. Also, was ist passiert?"

Ich folgte Lola in ihr kleines Zimmer, welches sie mit ihrer Schwester teilte. Lola hatte einen älteren Bruder und drei jüngere Geschwister. Alle wohnten sie noch zu Hause, und ihr Haus war kleiner als unseres, was bedeutete, dass sie nur wenig Platz hatten. Doch das störte mich nicht, denn ich mochte jeden einzelnen aus Lolas Familie und fühlte mich hier wohl und stets willkommen. Auf dem Weg in Lolas Zimmer traf ich auf ihre Mutter. Die kleine blonde Frau umarmte mich zur Begrüßung und fragte mich nach meinem Wohlbefinden.
"Mir geht es gut, danke. Und Ihnen?"
"Auch sehr gut, lieb, dass du fragst. Aber dir wird es noch besser gehen, wenn du erst mal meine leckeren, selbst gebackenen Kekse probierst", sagte sie zwinkernd und drückte mir einen vollen Teller mit Keksen in die Hand.

Lolas Zimmer war klein und voller Justin Bieber Poster. Ihre 12 Jahre alte Schwester Alice war sein größter Fan - was Lola ziemlich missfiel, sie konnte den Teenie - Star absolut nicht ausstehen. Trotzdem ertrug sie ohne Protest die Poster in ihrem Zimmer. Ansonsten befanden sich nur das Etagenbett, ein Schrank und ein kleiner Schreibtisch im Raum, für mehr fehlte einfach der Platz. Als ich mich suchend nach Lolas Schwester umblickte, erklärte sie: "Alice ist auf Klassenfahrt. Das heißt, diese Woche gehört das Zimmer mir alleine. Dem Himmel sei dank, eine Woche ohne sie und ihre pubertierenden Freundinnen kann ich echt vertragen. Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Schwester, aber so habe ich endlich die Möglichkeit, ein wenig zur Ruhe zu konmen. Aber jetzt komm zur Sache: Warum willst du, Estelle Rose Mathieu, shoppen gehen?"
"Ich gehe gerne shoppen, Lola, mir fehlt nur die Zeit dazu", rechtfertigte ich mich. "Aber es gibt tatsächlich einen Grund. Noah hat mich gefragt, ob ich mit ihm zum Weihnachtsball seiner Schwester kommen möchte, und ich habe nichts anzuziehen."
"Wann ist der Ball?", wollte Lola wissen.
"Kurz vor Weihnachten, also in ungefähr drei Wochen, schätze ich."
"Bis dahin haben wir noch ewig Zeit, also keine Panik, Estelle. Du musst endlich aufhören, alles im Voraus zu planen .. Aber mal eine andere Frage: Ihr geht zusammen zu einen Ball, aber ihr seid noch immer kein Paar?"
Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe. "Ich bin mir nicht sicher, ob er mich auf die selbe Art und Weise mag, wie ich ihn", gestand ich.
"Na, dann ist es an der Zeit, endlich was zu unternehmen, um genau das herauszufinden. Oder wie lange wollt ihr noch auf derselben Stelle herumlaufen?", meinte Lola. 
"Und wie stellst du dir das vor?", fragte ich und rollte mit den Augen.
"Küss ihn einfach. Das hättest du schon längst tun sollen."
"Das sagst du so leicht. Bis jetzt hat sich einfach noch nicht der richtige Augenblick ergeben."

Ich wurde einfach nicht schlau aus Noah. Einen Tag nahm er mich in die Arme und gab mir das Gefühl, besonders zu sein. Er verlangte, dass ich ihm vertraute und ihm war es wichtig, mir die Welt zu zeigen. Und ein andermal erklärte er mir, dass er ohne Rücksicht auf mich das Land verlassen würde. Er schlief mit anderen Frauen oder meldete sich tagelang nicht.
Was sollte ich nur davon halten? Wie sollte ich damit umgehen? Empfand er das selbe für mich wie ich für ihn?
So viele Fragen, und auf keine wusste ich eine Antwort.

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Ich habe mal versucht, ganz grob auszurechnen, wie viele Seiten (im Format von "Thoughtless") ich bereits geschrieben habe und bin auf 70 Seiten gekommen. Der Wert ist aber leider relativ ungenau.

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt