Kapitel 50: Dankbarkeit

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Gegen zwanzig Uhr war die Party beendet und die letzten Gäste verließen die Wohnung. Mit Lisa hatte ich mich nicht mehr unterhalten, und ich wurde noch immer nicht schlau aus ihr. Susan küsste mich zum Abschied auf die Wange und flüsterte: "Du bist so ein tolles Mädchen", während sie mir aus ihren strahlenden Augen einen vielsagenden Blick zuwarf. Ich hatte nicht mehr die Gelegenheit nachzufragen, wie sie ihre Worte meinte, denn sie verließ schnell die Wohnung.
Bryan übernachtete in der Wohnung und begab sich rasch ins Gästezimmer, um sich ein wenig einzurichten.

Auch Lilly verkroch sich bald in ihr Zimmer, sodass Noah und ich alleine zurückblieben. Wir begannen, gemeinsam aufzuräumen und abzuwaschen, doch schon bald war Noah erschöpft. Er sagte nichts, doch ich merkte es ihm an, er war blass, sein Atem ging stoßweise, einmal musste er sich am Regal festhalten und einen Moment pausieren.
Dass er geheilt war, bedeutete nicht, dass er auch fit war, und deshalb bot ich an, den Rest alleine sauber zu machen. Noah willigte dankend ein und ging langsam in sein Zimmer.

Als ich kurz später mit dem Abwasch fertig war, begab ich mich zu Noah. Er lag zugedeckt im Bett, und ich nahm an, dass er schlief. Also legte ich mich, darauf bedacht, leise zu sein und ihn ja nicht zu wecken, zu Noah ins Bett. Eine Weile lag ich stumm da, mit offenen Augen und dachte nach. Worüber genau, weiß ich nicht mehr, doch die Gedanken hinderten mich daran, Schlaf zu finden. 

"Danke", murmelte Noah plötzlich in die Stille und zog mich an sich.
"Gerne", wisperte ich leise zurück, in der Annahme, dass er mir dafür dankte, dass ich den Abwasch übernommen hatte.
Noahs Hand strich sanft über meinen Arm.
"Danke für alles, Estelle", sagte er leise und drückte mir behutsam einen Kuss hinter mein Ohr. "Dass du alles gemeinsam mit mir durchgestanden hast. Dass du niemals aufgegeben hast. Dass du immer für mich da warst. Und es immer noch bist."
"Dasselbe kann ich nur zurückgeben, Noah", flüsterte ich. "Du hast genau so viel für mich gemacht."
"Nein, das stimmt nicht" widersprach Noah. "Du hast viel mehr für mich getan, als ich für dich. Aber jetzt, wo ich geheilt bin, Estelle, werde ich all das nachholen, das verspreche ich. Außerdem führen wir die To-Do-Liste zuende. "

Ich gab Noah einen innigen Kuss und blickte ihn an. Der Mondschein erhellte das Zimmer gerade so viel, dass ich seine Konturen erkennen und seine Augen erahnen konnte.
"Du bist ein Engel, Estelle", sagte Noah, und in dem Moment trafen sich unsere Blicke, das konnte ich sogar im schwachen Mondlicht erkennen. "Anders kann es nicht sein. Du bist so .. gut und so vollkommen. Und ich bin Gott so unglaublich dankbar, dass er uns beide zusammen geführt hat. Und ich danke ihm jeden Tag, jede Minute, die ich mit dir verbringen darf. Manchmal frage ich mich, womit ich das verdient habe."
"Ich bin nur ein gewöhnliches Mädchen, Noah. Ich bin nicht perfekt", stellte ich klar, nachdem ich ihm einen weiteren Kuss gegeben hatte, eine stumme Geste, mit der ich ihm für seine berührenden Worte
dankte.

"Für mich bist du es. Perfekt, meine ich..", hauchte er, und fuhr zögernd fort: "Weißt du, die Krankheit hatte auch etwas Gutes. Erst jetzt habe ich das alles hier zu schätzen gelernt. Alles, was ich habe. Früher habe ich es, so wie die meisten Menschen, für selbstverständlich genommen. Als meine Mutter dann starb, sah ich, wie schnell alles vorbei sein kann und beschloss, viel zu erleben und meine Zeit zu nutzen. Aber erst jetzt, wo ich am eigenen Leib erfahren habe, wie rasch das Leben vorbei sein kann, habe ich gelernt, dass du alles, was du hast, wertschätzen musst. Ich schätze meine Gesundheit, mein Wohlbefinden. Ich bin dankbar für jede Minute ohne Schmerzen. Aber am meisten schätze ich dich. Ich schätze uns und unser Glück. Wir beide haben uns gefunden, und darüber sollten wir jede Sekunde glücklich sein. Nicht jeder findet so einen Engel wie dich, Estelle. Das war mir vorher zwar bewusst, aber erst jetzt kann ich unser Glück in all seiner Bedeutsamkeit erfassen."

Als Noah endete, merkte ich, wie mir langsam die Tränen das Gesicht hinunter liefen. So etwas Schönes hatte noch nie jemand zu mir gesagt.
"Auch ich bin dankbar für alles. Ich liebe dich, Noah, ich liebe dich über alles."
"Ich liebe dich auch, Estelle."

Noah hatte sich vielleicht verändert, und auch ich hatte mich verändert, doch jetzt bemerkte ich, dass eine Veränderung nicht zwingend negativ sein musste. Und unsere Veränderung war positiv und eröffnete uns, neben einem besseren Blick auf die Welt auch viele neue Möglichkeiten. Jeder Mensch entwickelt sich weiter, jede Erfahrung prägt einen, doch das ist ganz natürlich. Jede Erfahrung bringt einen ein Stück weiter und jeder Verlust ist vielleicht auch ein Gewinn.

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Mal ein etwas kürzeres Kapitel :) Ich hoffe es gefällt euch trotzdem.

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt