Kapitel 47: Gewissheit

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Die Stunden verstrichen, und ich wurde immer ungeduldiger. Ich hielt es nicht mehr aus, diese schreckliche Ungewissheit. Die Angst kroch von meinen Zehen aufwärts und nistete sich in meinem Körper ein, wie ein ständiger Begleiter.
"Es wird schon gut gehen", versuchte Eric mich zu beruhigen, doch er konnte mir die Angst nicht nehmen. Ich wusste, dass er es nur sagte, um es mir irgendwie leichter zu machen.

Nach zwei weiteren Stunden der Ungewissheiten kam der Arzt endlich, endlich aus dem Operationssaal. Wir sprangen alle gleichzeitig von unseren Stühlen auf, vier hoffnungsvolle Augenpaare blickten ihm entgegen. Der Blick des Arztes hingegen war undurchdringlich. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte er: "Es gab kleine Komplikationen. Der Krebs saß tiefer, als wir ahnten." Er machte eine Atempause, und die Luft war zum zerreißen gespannt. "Aber wir konnten einen Großteil entfernen, und der Patient hat die Operation gut überstanden. Er ist stabil." Lilly brach vor Erleichterung zusammen und sank in meine Arme, und auch ich wurde mal wieder von meinen Emotionen überwältigt, wie so oft in letzter Zeit.
"Können wir zu ihm?", fragte Eric.
"Natürlich, aber nicht alle zusammen. Er braucht Ruhe und Erholung."
Eric musste zur Arbeit, und so gingen zuerst Susan und Lilly zu Noah. Währenddessen telefonierte ich mit meiner Schwester, ich hatte ihr versprochen, dass ich ihr mitteilte, wie die Operation verlaufen war. Gerade als ich das Telefonat beendete, verließen Susan und Lilly das Krankenzimmer. Ich konnte endlich zu Noah.

Mein erster Gedanke war, dass er erschreckend schwach aussah. Doch ich nahm an, dass das nach einer mehrstündigen Operation nicht ungewöhnlich war. Noah hatte die Augen geschlossen, und langsam ging ich zu ihm ans Bett. Ich streckte vorsichtig meine Hand aus und strich Noah über die blasse Haut an seiner Schläfe.
Er öffnete die Augen und es war ihm deutlich anzumerken, wie viel Kraft ihn diese Handlung kostete. Er schenkte mir ein schwaches Lächeln, und erst da wurde mir klar, wie sehr ich mich nach diesem Lächeln gesehnt hatte. Ich ergriff seine Hand und wusste auf einmal, dass alles gut werden würde.
"Estelle", flüsterte Noah mit leiser Stimme. Nur dieses eine Wort brachte ihm an die Grenzen seiner Kräfte.
"Nicht sprechen, Noah", flüsterte ich. "Du musst dich ausruhen."
"Wir haben es geschafft", sagte er, und ich sagte: "Ja, haben wir", ohne die Tatsache zu beachten, dass Noah den Kampf noch nicht gewonnen hatte. Zu erleichtert waren wir, dass die Operation gut gegangen war. Alles andere würde schon irgendwie werden. Dachte ich.

Noah erholte sich relativ schnell. Schon zwei Wochen nach der Operation machte er die ersten vorsichtigen Schritte. Er hatte einen Gesprächstermin mit dem behandelnden Arzt, Dr. Moreau, und bat mich, ihn zu begleiten. Ich schob ihn in dem Rollstuhl zum vereinbarten Raum.
"Ich habe Angst vor dem, was auf mich zu kommt", gestand Noah. Ich drückte seine Hand und nickte.
"Ich weiß. Ich habe auch Angst."

Das Zimmer war klein und alt, die Wände, wie im gesamten Krankenhau, in einem sterilen weiß gestrichen. Der Arzt ließ nicht lange auf sich warten. Es war derjenige, die Operation geleiter hatte. Er schüttelte uns die Hand und wir setzten uns ihm gegenüber an den Tisch in seinem Büro.
"Wie geht es Ihnen heute, Noah?", fragte der alte, bärtige Arzt in geschäftlichem Tonfall.
"Ganz gut, schätze ich", erwiderte Noah.
Der Doktor nickte und blickte Noah an.
"Heute sprechen wir darüber, wie es mit Ihnen weitergeht. Selbstverständlich möchten wir Ihnen die beste Therapie ermöglichen. Möchten Sie das lieber unter vier Augen besprechen?"
"Estelle kann alles, was Sie zu sagen haben, erfahren", versicherte Noah schnell. Diese Worten rührten mich mehr, als ich mir in dem Moment anmerken ließ.
Wieder nickte Dr. Moreau.
"In Ordnung. Wie Sie wissen, haben wir das Sarkom - ihren Tumor - größtenteils entfernen können, ohne eine Gliednaßenamputation durchführen zu müssen. Sie hatten Glück, dass der Tumor so günstig lokalisiert war. Trotzdem haben Sie noch immer Krebszellen in ihren Körper, und um zu verhindern, dass diese metastieren, also ihre Blutgefäße und Organe befallen, empfehlen wir Ihnen, eine Chemotherapie zu machen."
Noah quetschte meine Hand und ich sah die Panik in seinem Blick. "Nein", flüsterte er. "Scheiße, nein."
Insgeheim hatte er - obwohl wir beide wussten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass die Ärzte den Krebs nicht vollständig entfernen konnten - darauf gehofft, keine Chemotherapie machen zu müssen.

Auch der Arzt bemerkte Noahs Furcht und Zweifel.
"Sie haben Angst, und das ist ganz normal. Machen wir uns nichts vor, die genannte Therapiemaßnahme greift ihren Körper stark an. Das lässt sich nicht beschönigen. Und ebenso kann ich nicht garantieren, dass die Chemo bei Ihnen ihre Wirkung entfalten kann. Auch kann der Krebs anschließend wiederkehren, das ist durchaus möglich. Aber Sie haben noch immer bösartige Krebszellen in ihrem Körper, und ohne die Chemotherapie ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Zellen bald metastieren. Es ist Ihre einzige Chance auf vollständige Heilung." Er machte eine Atempause und sein Blick wanderte zu mir und schließlich wieder zurück zu Noah. "Sie sind ein Kämpfer. Lassen Sie den bisherigen Kampf nicht umsonst gewesen sein, Noah. Sie sind noch so jung, die Welt steht ihnen noch offen. Denken Sie darüber nach."
Noah nickte, er hatte sich von der Nachricht etwas erholt und wirkte gefasst. Dr. Moreau warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Ich schätzte an ihm, dass er uns die Wahrheit sagte, auch wenn es hart klang. Doch er war ehrlich, anstatt etwas zu seinen Gunsten zu beschönigen, und das macht ihn zu einem hervorragenden Arzt.

"Ich weiß, dass das alles schwierig für Sie ist. Für Sie beide." Er warf mir einen kurzen Blick zu. "Noah, schlafen Sie eine Nacht und entscheiden Sie dann, was sie wirklich möchten. Meine Meinung kennen Sie. Doch letztendlich müssen sie es wissen. Morgen sprechen wir über ihre Entscheidung, denn falls Sie sich für die Chemo entscheiden sollten, müssen wir alles baldmöglichst in die Wege leiten. Der Krebs entwickelt sich täglich weiter, je schneller wir also beginnen, desto besser."
Noah schwieg, was der Arzt als Zeichen sah, das Gespräch zu beenden.
"Wir sehen uns morgen", sagte Dr. Moreau, erhob sich und ging in Richtung Tür. Gerade als er die Tür öffnete, um den Raum zu verlassen, sagte Noah: "Warten Sie, Dr Moreau."
Der Arzt drehte sich um und blickte Noah neugierig an.
"Ich habe mich bereits enschieden. Und zwar für die Chemotherapie."

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Es tut mir leid dass ich so selten update & dass diese Kapitel so viele medizinische Details enthalten. :D

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt