Kapitel 15: Die Wahrheit

38 8 6
                                    

~ Estelles Perspektive ~

Ich war neugierig, doch gleichermaßen fürchtete ich mich vor dem, was Noah mir gleich eröffnen würde.
"Ich war bei meiner Mutter", sagte er. Es brauchte einige Sekunden, bis die Bedeutung seiner Worte zu mir durchdrang. Diese Aussage ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
"Deine Mutter ist tot", erwiderte ich monoton.
"Ja und Nein", sagte er. Meine Neugierde überwog der Wut über seine Lüge, und so wartete ich stumm, bis er weitersprach. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, und fuhr schließlich fort: "Ich habe dich nicht angelogen. Meine Mutter ist wirklich tot, oder besser gesagt die Frau, die ich als meine Mutter sehe. Ihr Name war Isabelle. Sie war eine herzensgute Frau, die leider viel zu früh sterben musste. Doch biologisch gesehen ist Isabelle nicht meine Mutter, sondern meine Tante."
Seine Worte schnürten mir die Kehle zu, und ich ahnte, dass der nächste Teil der Geschichte nicht sonderlich schön werden würde.
"Meine leibliche Mutter heißt Susan. Sie ist die jüngere Schwester von Isabelle", erklärte Noah, und seine gepresste Stimme verriet, dass es ihn Mühe kostete, über das Ganze zu sprechen. "Als Susan mit mir schwanger wurde, war sie 16. Ihre Eltern setzten sie auf die Straße und sie heiratete meinen Erzeuger und bekam zwei Jahre später ein weiteres Kind, meine Schwester. Meinem biologischen Vater wurde alles zu viel, und er ist abgehauen und hat Susan alleine mit uns gelassen. Ich habe keinen Kontakt zu diesem Mann, ich kenne ihn nicht mal, das einzige was ich weiß, ist, dass er Probleme mit Drogen und Alkohol hat. Zunehmend hat auch meine Mutter gefallen an beidem gefunden, und ihre Stimmungen schwankten innerhalb von wenigen Minuten. Mal war sie gut drauf, und fünf Minuten später wuchs ihr alles über den Kopf, und sie schlug mich und meiner Schwester. Als ich 5 und Lilly 3 Jahre alt war, nahmen uns Isabelle und Eric bei sich auf. Susan wehrte sich nicht. Isabelle und Eric gaben uns alles, was wir brauchten, und wir hatten eine fantastische Kindheit. Zwar scheiterte auch ihre Ehe, doch ich hatte stets zu beiden ein gutes Verhältnis. Jetzt, wo Mom nicht mehr da ist, leben wir hier bei Eric. Er ist wie ein Dad für mich. Zu Susan habe ich noch in unregelmäßigen Abständen Kontakt. Eigentlich ist sie keine schlechte Frau, sie war einfach restlos überfordert. Sie ist immer noch dem Alkohol und den Drogen verfallen und weigert sich, eine Therapie zu machen. Vor gut drei Wochen hat sie mich dann angerufen, irgendwas über Leben und Tod gefaselt, und ich wusste, dass sie komplett high war. Ich hatte Angst, dass sie sich etwas antun würde und so blieb mir nichts anderes übrig, als hinzufahren. Besonders, da meine Schwester jeglichen Kontakt zu ihr verweigert. Sie hat niemanden außer mir." Als er endete, hingen seine Worte bedeutungsschwer in der Luft. Sein Geständnis berührte mich tief in meinem Inneren, und verschiedene Emotionen überfluteten mich wie eine Welle. Ich spürte, wie langsam eine Träne meine Wange hinunter lief. Ich weinte für Noah und Lilly und auch für Susan. Alle drei mussten viel durchmachen, und erst jetzt wurde mir bewusst, wie gut es mir eigentlich ging. Auch wenn es mit meinen Eltern manchmal schwierig war, waren sie immer für mich da und liebten mich. Noah und Lilly hatten gleich zwei Mütter verloren.
Was mich aber noch viel mehr berührte, war, dass er es mir erzählt hatte. Es war ihm beim besten Willen nicht leicht gefallen, doch er hatte mir vertraut. Und das bedeutete mir verdammt viel.

Noah hielt mit dem Auto auf einem Waldweg an, und weil mir immer noch die Worte fehlten, legte ich meine Hand in seine und drückte wie leicht. Er erwiderte den Druck, und damit war alles gesagt. "Danke, dass du es mir anvertraut hast. Das bedeutet mir total viel", flüsterte ich und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er hatte sich von dem Geständnis erholt und sich mir sanft mit seiner Hand über die Wange.

"Okay, genug geredet. Willst du wissen, was wir heute vor haben?", fragte er mich lächelnd. Ich ließ den Themenwechsel zu.
"Natürlich möchte ich es wissen."
"Wir wandern - und zwar, bis es dunkel wird. Wir bestimmen abwechselnd die Richtung, mal schauen, wo wir rauskommen. Und dabei stellen wir uns gegenseitig Fragen. Einverstanden?"
"Einverstanden."

Noah stellte den Wagen auf einem Waldparkplatz ab. Ich wusste nicht, wo wir waren. Wir wechselten uns mit der Richtungsvorgabe ab, und ich verlor völlig die Orientierung, was einerseits furchteinflößend und andererseits aufregend war. Wir wanderten bestimmt 2 Stunden am Stück - auch mein Zeitgefühl hatte ich vollkommen verloren - und stellten uns verschiedene Fragen.
Ich erfuhr, dass Noah schon viele verschiedene Länder bereist hatte, Norwegen und Kanada zählten zu seinen liebsten Ländern. Im Gegenzug erzählte ich ihm, dass ich erst einmal in meinem Leben Frankreich verlassen hatte, indem ich zwei Wochen mit meinen Eltern in Amerika verbracht hatte. Er hatte schon unglaublich viel erlebt und noch so viel vor. Ich hatte bei weitem nicht so aufregende Pläne.
Außerdem beichtete er seine Abscheu für Fußball, während ich von meiner Vorliebe für Bücher erzählte. Wir redeten über unseren schlimmsten und unseren schönsten Tag, über unsere Ängste und Wünsche. Die Zeit verging rasend schnell und gegen Mittag legten wir eine Essenspause ein. Die Tatsache, dass ich weder Zeit noch Ort bestimmen konnte, macht mir kaum mehr etwas aus.

Nach einer weiteren Stunde Laufen erreichten wir eine  kleine Lichtung. Sie war wunderschön. Überall waren bunte Blumen und Blätter, und das Sonnenlicht kitzelte warm unsere Haut. Der Himmel war blau, und nur wenige Wolken hingen über uns. Noah legte sich flach in die Wiese, und ich kuschelte mich dicht neben ihnen. Wir schauten in den Himmel und bildeten Wolkenbilder.
Ich genoss den wunderschönen Augenblick und rückte näher an Noah heran. Er legte den Arm um mich und zog mich an sich. Wenn ich mit Noah zusammen war, wurden kleine Dinge zu bedeutenden Momenten.
"Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben", flüsterte ich.
"Ich auch, Estelle. Ich auch."

-------------------------------

Danke, dass ihr meine Geschichte lest ♡

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt