Kapitel 37: Angst

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Noah erwachte und ich wischte mir die Tränen, welche mir unaufhaltsam über die Wangen strömten, eilig weg. Er versicherte, dass er nicht ins Krankenhaus musste, doch unter dem eisigen Blick seines Vaters verstummte er. Wenige Minuten später trafen die Sanitäter ein, um Noah ins Krankenhaus zu bringen. Eric und ich fuhren mit Erics Wagen hinterher. Währenddessen erklärte er mir einiges über Noahs Erkrankung.
"Er hat Knochenkrebs", sagte Eric. "Wie Isabelle, seine Adoptivmutter. Isabelle war, wie du vielleicht weißt, Susans Schwester und somit Noahs leibliche Tante. Ob der Krebs bei Noah genetisch bedingt ist, ist zwar nicht belegt, aber auch keinesfalls ausgeschlossen. Er hat die Diagnose vor gut einem halben Jahr bekommen, und eine Operation oder Chemotherapie bieten gute Heilungschancen. Doch Noah weigert sich dagegen, du kennst ihn ja.." Die Tränen bahnten sich einen erneuten weg nach draußen. Warum ausgerechnet Noah? Er war der gerechteste, liebenswerteste und lebensfrohste Mensch, den ich kannte.

Wir erreichten das Krankenhaus und wurden zur Station 4 geleitet. Eine Krankenschwester erklärte: "Er wird gerade durchgecheckt. Ich gehe aber stark davon aus, dass er stationär aufgenommen werden muss, damit weitere Untersuchungen durchgeführt werden können."
Wir warteten, doch nach ein paar Minuten bekam Eric einen Anruf von Susan. Irgendetwas stimmte mit der kleinen Emely nicht, und Eric musste sofort nach Hause. "Sag ihm, dass ich später vorbeikomme", bat mich Eric. "Ich denke, es ist so oder so besser, wenn ihr beiden euch erst einmal in Ruhe aussprecht." Ich nickte stumm. Ich spürte eine Angst, die mich von innen aufzufressen drohte. Doch über der Angst lag brodelnde Wut. Wut auf das Schicksal oder auf eine höhere Macht, oder was auch immer Noah das angetan hatte. Er hatte das nicht verdient. Ich wurde von Schluchzern und Weinkrämpfen geschüttelt, und irgendeine Krankenschwester nahm mich in den Arm und versuche vergeblich, mich zu trösten. Doch sie musste bald weiterarbeiten und ließ mich mit meiner Angst und Verzweiflung allein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit machte ich mich auf die Suche nach dem Behandlungsraum. Ich wollte Noah endlich sehen. Ich fragte einen Pfleger, und dieser beschrieb mir den Weg zu Noahs Zimmer.
"Noah Crowly wurde stationär aufgenommen. Er ist bereits in seinem Zimmer. Die Ärztin ist gerade bei ihm", erklärte der Pfleger. "Warten Sie ab, bis das Gespräch beendet ist, danach können Sie zu ihm."
Ich folgte der Wegbeschreibung des Pflegers und erreichte kurz später den genannten Raum. Ich hörte gedämpfte Stimmen und trat näher an die geschlossene Tür heran. Tief in meinem Inneren war mir bewusst, dass man in solchen Situationen nicht lauschen sollte, doch ich wollte endlich ein paar Informationen.
"Überlegen Sie es sich", hörte ich die helle Stimme einer Frau sagen. Vermutlich die Ärztin. "Eine Operation in Kombination mit einer Chemotherapie würde ihnen Chancen auf eine vollständige Heilung bieten. Noch ist es möglich, doch wenn sie zu lange warten, schreitet der Krebs weiter fort, und dann können wir Ihnen nicht mehr helfen. Ich appelliere an ihre Vernunft, darüber nachzudenken. Schlafen Sie eine Nacht darüber, bis morgen."
Ich hörte, wie sich Schritte der Tür näherten und entfernte mich rasch, um nicht beim Lauschen erwischt zu werden.

Eine große, schlanke Frau mit Arztkittel trat in den Flur. Ich sah vermutlich ziemlich verzweifelt aus, denn sie schenkte mir einen mitfühlenden Blick. "Darf ich zu ihm?", fragte ich, und die Ärztin antwortete mit einem Nicken. "Sprechen sie mit ihm", fügte sie hinzu. Das Bedauern in ihrer Stimme war nicht zu überhören. "Er ist so dickköpfig."

"Estelle", sagte Noah und lächelte schwach. "Ich bin so froh, dass du da bist. Komm her."
Ich ging zu ihm, setzte mich auf einen Stuhl neben das Bett und ergriff seine Hand. Die Tränen liefen erneut.
"Wie viel weißt du?", wollte Noah vorsichtig wissen.
"Eric hat mir das meiste erzählt", erklärte ich. Er nickte ernst.
"Es tut mir so leid, Noah. Wenn ich es gewusst hätte.."
"Dann hättest du nichts tun können, Estelle. Und, ich brauche kein Mitgefühl. Es ist, wie es ist."
"Und wie wird es jetzt weiter gehen?", fragte ich und konnte die Verzweiflung in meiner Stimme nicht verstecken.
"Das weiß ich erst, wenn es so weit ist."
"Ach, hör doch auf", fuhr ich ihn schärfer als beabsichtigt an. "Willst du jetzt einfach abwarten und nichts tun?"
"Was soll ich sonst tun?", fragte Noah nüchtern.
"Ich habe eben zufällig mitbekommen, wie die Ärztin von möglichen Therapien gesprochen hat.
Von einer Operation."
"Ich will keine Operation", sagte Noah. Ich entzog ihm meine Hand.
"Wieso nicht, Noah? Hör endlich auf, den Helden zu spielen. Der Held, der alles auf sich zukommen lässt. Der das Schicksal annimmt, wie es ist. Hier geht es um dein Leben, Noah. Ist dir der Ernst der Lage nicht bewusst? Denk an deine Mitmenschen! Was wird aus Lilly? Was wird aus mir? Ist dir das völlig egal? Schluck verdammt noch mal deinen Stolz runter und nimm Hilfe an, bevor du stirbst!" Meine Stimme war zunehmend lauter, und, soweit es möglich war, noch verzweifelter geworden.
"Du verstehst gar nichts, Estelle", zischte Noah.
"Dann erklär es mir", forderte ich. Noah schloss die Augen und atmete tief durch.
"Ich möchte nicht so sterben wie meine Mutter", erwiderte er.
"Aber genau das wirst du, wenn du dich nicht behandeln lässt, Noah."
Er suchte meinen Blick und ergriff erneut meine Hand. Ich ließ ihn gewähren.
"Erinnerst du dich noch daran, dass du mich einmal gefragt hast, was ich am meisten bereuse? Damals, als wir gewandert sind", fragte Noah.
Überrascht von seinem Themenwechsel nickte ich.
"Meine Antwort war: Dass ich die Gelegenheit verpasst habe, mich bei meiner Mutter zu entschuldigen. Möchtest du wissen, was genau damals passiert ist?"
"Nur, wenn du es mir erzählen möchtest", gab ich zurück. Er nickte.
"Der Krebs meiner Mutter wurde erst sehr spät entdeckt. Er war bereits ziemlich weit fortgeschrittenen und ging in andere Körperregionen über. Meine Mutter machte eine Chemotherapie, doch sie schlug nicht an. Die letzte Therapie Möglichkeit war eine Operation. Ohne diese hätte sie vermutlich nur noch ein paar Wochen leben können. Doch die Operation war gefährlich, da der Krebs sich bereits so weit ausgebreitet hatte. Ihr hätte das Bein amputiert werden müssen. Doch ein weiteres Problem war, dass meine Mutter schon durch die Chemo geschwächt war. Die Ärzte sagten, eine Operation sei in ihrem Zustand sehr riskant und nicht unbedingt ratsam. Sie entschied sich dagegen, doch ich konnte nur daran denken, dass sie ohne Operation unweigerlich wenige Wochen später sterben würde. Ich habe sie zu der Operation gedrängt, schlimmer noch. Ich habe ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. Gesagt, sie müsse an uns Kinder denken. Ich habe ihr regelrecht gedroht. Und so hat sie sich dann doch für die Operation entschieden." Er schluchzte, Schmerz huschte über sein Gesicht. "Sie ist nicht wieder aufgewacht. Sie war zu schwach und hat die stundenlange Narkose nicht verkraftet. Sie ist gestorben, und es ist meine Schuld. Hätte ich sie nicht zu der Operation gedrängt, sondern ihre Entscheidung akzeptiert, hätte sie noch ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate länger leben können."
Unfähig, etwas zu sagen, drückte ich seine Hand. Sein Geständnis überwältigte mich.
"Das tut mir so leid, Noah. Aber du wolltest nur das Beste für sie, und ich bin mir sicher, dass sie das wusste", sagte ich, als ich schließlich meine Stimme wieder fand. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er anderer Meinung war, doch er ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er: "Ich hoffe du verstehst jetzt, wieso ich mich nicht operieren lassen werde. Und außerdem müsste ich eine Chemo machen. Dass meine Haare dabei ausfallen, ist das kleinste Problem. Aber eine Chemotherapie kann unfruchtbar machen oder gar impotent. So ein Leben möchte ich nicht führen, Estelle. "

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt