Kapitel 20: Unerwartete Geständnisse

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Ich war wütend und enttäuscht, dabei wusste ich tief in meinem Inneren, dass ich kein Recht dazu hatte. Denn was Noah gesagt hatte, war die Wahrheit. Er hatte keine Freundin und konnte tun und lassen, was er wollte. Mal wieder war ich selbst Schuld; ich hatte zu viel in die Sache mit uns hinein interpretiert. Für ihn lief das Ganze auf freundschaftlicher Ebene. Doch ich war mir nicht sicher, ob es auch für mich rein freundschaftlich sein konnte.
Ich fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause und verkroch mich in meinen Zimmer.

Keine fünf Minuten später klingelte es. Ich vermutete, das entweder Noah oder Lola vor der Tür stehen würden, doch womit ich niemals gerechnet hätte, war mit einem Besuch von Lisa. Doch genau so kam es. Das zarte, schwarzhaarige Mädchen mit der blassen Haut und den dunklen Klamotten lehnte im Türrahmen und schaute mich erwartungsvoll mit ihren großen, eisblauen Augen an.
"Estelle, können wir bitte kurz reden?", fragte das Mädchen. Ich wollte sie wegschicken, doch etwas an ihrem Blick ließ mich innehalten. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein, und ich muss gestehen, dass mich brennend interessierte, was sie zu sagen hatte.
"Komm rein."

Sie folgte mir in die Küche.
"Möchtest du Tee? Oder Kaffee?"
Sie lehnte dankend ab. "Eigentlich möchte ich nur mit dir sprechen." Wir setzten uns an den Küchentisch. Lisa war nervös, sie wippte unruhig mit dem viel zu dünnen Bein auf und ab und fuhr sich mit der Hand durch die hüftlangen, schwarz gefärbten Haare. "Also, das zwischen Noah und mir.."
"Mich interessiert nicht, was zwischen euch gelaufen ist", log ich mit kalter Stimme.
"Estelle, bitte. Bitte hör mir zu. Gib mir zwei Minuten Zeit, dir das Ganze zu erklären."
Als ich nichts erwiderte, setzte sie erneut an: "Also, zwischen Noah und mir, da läuft nichts."
"Aber ihr schlaft miteinander?", fragte ich und konnte den spöttischen Unterton in meiner Stimme nicht verbergen.
"Ja, schon. Manchmal. Das letzte Mal vor zwei Monaten, ich schwöre, dass seit dem nichts mehr zwischen uns passiert ist. Und da musste ich ihn schon anbetteln. Gott, hätte ich gewusst, dass ihr beiden etwas miteinander habt, hätte ich ihn gar nicht darum gebeten. Das Ganze zwischen uns läuft völlig ohne Gefühle, verstehst du? Wir mögen uns ja noch nicht einmal!"
"Warum schlaft ihr dann miteinander?", fragte ich mit zitternder Stimme.
"Miteinander schlafen ist der falsche Ausdruck. Das klingt so .. zärtlich. Aber was wir tun, das ist alles andere als zärtlich." Ich musste schlucken. So genau wollte ich das gar nicht wissen. "Du möchtest wissen, warum wir es tun? Ich habe Probleme. Noah hat ebenfalls Probleme, höchstwahrscheinlich größere, als du ahnst. Und diese Probleme möchten wir einfach für einen kurzen Moment vergessen. Aber das Ganze ging hauptsächlich von mir aus. Noah findet mich nicht begehrenswert. Wie auch? Schau mich an. Nichts an mir ist begehrenswert." Sie zeigte auf ihren schmalen, mit Blutergüssen übersähten Körper. "Und dann schau dich an."
"Sag so etwas nicht", flüsterte ich. Ich empfand keine Wut mehr, Lisa tat mir einfach nur leid.
"Wir wissen beide, dass es die Wahrheit ist." Sie gab mir keine Gelegenheit, ihr zu widersprechen. "Aber darum geht es nicht. Was ich sagen möchte, ist: Noah hat viel Scheiße erlebt, aber er ist kein schlechter Mensch. Im Gegenteil, er ist einer der besten Menschen, die ich kenne." Ich versuchte mühsam, die in mir aufkeimende Eifersucht zu unterdrücken. Sie sprach weiter, auch wenn die zwei Minuten längst vorbei waren. "Du bedeutest ihm etwas. Ich kenne ihn gut genug, um das zu wissen. Seine Reaktion vorhin am Küchentisch hat gezeigt, dass du ihm wirklich wichtig bist. Und genau das ist es, was er braucht. Er braucht ein Mädchen an seiner Seite, dass ihm etwas bedeutet." Sie zögerte kurz, bevor sie flüsternd hinzufügte: "Und vielleicht ... vielleicht kannst du ihn überzeugen."
"Wovon überzeugen?", fragte ich gleichermaßen neugierig und verwundert.
"Er hat es dir nicht gesagt?", fragte Lisa, und ihre Augen weiteten sich erschrocken.
"Was hat er mir nicht gesagt, Lisa?", fragte ich, getroffen von der Tatsache, dass dieses Mädchen mal wieder mehr wusste als ich.
"Das muss er dir selbst erklären. Ich muss jetzt gehen. Danke, dass du mir die Chance gegeben hast, mit dir zu reden. Das war mir wirklich wichtig. Bitte sei nicht wütend auf Noah, er trägt keine Schuld. Du bist ein gutes Mädchen, Estelle. Das sehe ich sofort."
Und ehe ich noch etwas sagen konnte, geschweige denn sie fragen konnte, woher sie überhaupt wusste, wo ich wohnte, war Lisa aufgestanden und aus meiner Wohnung verschwunden.

Ich lag noch lange in meinem Bett, mein Kater Zeus hatte sich auf meinem Bauch zusammengerollt, und dachte über das Gespräch und das, was ich über Noah erfahren hatte, nach. Das Ganze hatte mich sehr aufgewühlt. Ich war nicht mehr wirklich wütend auf Noah, denn Lisa hatte mir ziemlich deutlich gemacht, dass das zwischen den beiden stark von ihr ausgegangen war. Doch das dumpfe Gefühl der Eifersucht blieb. Irgendwann kam meine Schwester ins Zimmer und legte sich zu mir ins Bett.
"Willst du reden?", fragte sie sanft.
"Gerade nicht", antwortete ich und kuschelte mich in ihre Arme. Josie hatte momentan genug Probleme, ich wollte sie nicht noch mit meinen belasten.
"Soll ich trotzdem hier bleiben?"
"Sehr gerne."
Irgendwann schliefen wir beide ein.

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Hier nochmal ein recht kurzes Kapitel

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt