Kapitel 35: Schatten der Vergangenheit

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"Du musst es mir nicht erzählen", sagte Noah.
"Ich möchte aber", entgegnete ich wahrheitsgemäß.
Und dann erzählte ich. Und zwar die ganze Geschichte. Die Geschichte, die niemand kannte, von Lola und meiner Familie abgesehen.
"Vor zwei eimhalb Jahren fing alles an. Ich bekam einen neuen Mitschüler, Ryan. Er war einfach perfekt. Er war hübsch, beliebt und selbstbewusst. Und er war rebellisch, ließ sich von niemandem etwas sagen, erst recht nicht von den Lehrern. Natürlich war jedes Mädchen aus der Klasse heimlich in ihn verliebt. Irgendwann hat er mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Ich war total überwältigt. Ryan Cullen, der Schulschwarm, wollte mit mir ausgehen! Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass etwas an der ganzen Sache faul ist, doch ich war jung, naiv und verknallt. Wir gingen also aus und kamen wenige Wochen später zusammen, und irgendwann taten wir es: Wir schliefen miteinander." Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit fester Stimme gesprochen, doch die nächsten Sätze brachte ich nur noch zitternd hervor. Ich fühlte mich in die Zeit von damals versetzt, fast war es, als würde ich alles noch mal erleben. Die Erinnerungen jagten mir kalte Schauer über den Rücken, und eine Übelkeit breitete sich in mir aus und drohte, mich zu überwältigen. Trotzdem bemühte vergeblich ich mich um eine feste Stimme. "Am nächsten Morgen hing der Klassenraum voller Fotos. Fotos von Ryan und mir aus der vergangenen Nacht. Er hatte uns gefilmt. Mein Gott, wie ich mich schämte. Dann kam Ryan zu mir und sagte: 'Glaubtest du wirklich, dass ich etwas an dir finde? An dir?'
Ich muss gestehen: Ja, ich hatte es tatsächlich geglaubt. Und das war ein gravierender Fehler.
Er hatte mit seinen Jungs gewettet, dass er mich, wie brave Streberin, die graue Maus -" meine Stimme wurde verächtlich "- innerhalb von 4 Wochen ins Bett bekommen würde. Seine Kumpels hatten ihm das nicht zugetraut, doch er hat es geschafft. Ich hatte ihm vertraut, war auf ihn reingefallen und hatte tatsächlich geglaubt, dass so einer wie er etwas an mir finden könnte." Meine Stimme brach, doch ich zwang mich, weiter zu sprechen. "Die ganze Schule bekam es mit. Ein neues Ereignis, über das sie tratschen konnten. Natürlich machte es schnell die Runde. Endlich hatten sie jemanden, über den sie herziehen konnten. Von da an galt ich als die Schlampe der Schule. Dabei war Ryan mein erster und letzter, doch das war ihnen egal. Ich wurde trotzdem als Schlampe abgestempelt. Ich wurde gemobbt, öffentlich, und später, als ich mich nicht mehr in die Schule traute und geschlagene drei Wochen zu Hause blieb, auch im Internet. Die Schule scherte sich nicht darum, sie ließen mich mit meinen Problemen allein. Taten so, als würden sie von all dem nichts mitbekommen. Das wurde mir alles zu viel, verstehst du? Ich hatte niemanden mehr, der zu mir stand, abgesehen von Lola. Sie hat mir viel geholfen in der Zeit, doch auch sie konnte mich nicht vor den Hassbotschaften und Provokationen schützen. Ich hatte ja gehofft, meine Mitschüler würden den Vorfall schnell vergessen, doch ich hatte mich getäuscht, mal wieder. 3 Monate später fand ich noch immer Hassbriefe in meinem Briefkasten - meine Accounts im Internet hatte ich mittlerweile allesamt gelöscht. Als ich in einem Brief zum Selbstmord aufgefordert wurde, da habe ich es einfach getan. Ich habe versucht, mich umzubringen. Wollte mir die Pulsadern aufschneiden. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen, war emotional völlig am Ende, verstehst du? Doch meine Eltern, denen ich das Ganze aus Scham bis zu diesem Zeitpunkt verschwiegen hatte, fanden mich und brachten mich rechtzeitig ins Krankenhaus", endete ich. Mittlerweile schluchzte ich unaufhörlich, die Tränen strömten über mein Gesicht. Zu sehr schmerzten die Erinnerungen an die schlimmste Zeit meines Lebens. Die Zeit, in der ich Selbstmord als meinen einzigen Ausweg gesehen hatte.

Noah, der zuvor neben mir gesessen hatte, zog mich behutsam in seine starken Arme und küsste mich auf die Schläfe. Er flüsterte beruhigend auf mich ein. Sein Gesichtsausdruck spiegelte Wut und Abscheu, aber auch Bedauern und Verständnis wieder. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wollte Noah wissen: "Was ist mit dem Arschloch passiert?"
"Mein Vater hat natürlich um jeden Preis versucht, ihn zu bestrafen - als Anwalt hat er ja Ahnung von all dem Zeug - doch da Ryan zu dem Zeitpunkt noch minderjährig gewesen ist, konnte man nicht viel machen. Die Rechtslage war eindeutig. Er wurde zu Sozialstunden verurteilt und von der Schule suspendiert", erklärte ich.
"Das tut mir wirklich leid, Estelle. Sowas hast du eindeutig nicht verdient. Du bist das tollste und liebenswerteste Mädchen, dass ich kenne. Und ich verstehe, warum du mich eben gebeten hast, aufzuhören. Ich kann warten, meinetwegen warte ich Jahre.." Etwas an Noahs Gesichtsausdruck veränderte sich, doch ich konnte es nicht ganz deuten. Schnell hatte er sich wieder gefangen und überspielt den kurzzeitigen Stimmungsumschwung.
"Jedenfalls warte ich so lange, bis du bereit bist", flüsterte er und küsste mich auf die Lippen.

Das war der Tag, an dem Noah und ich endlich ein Paar wurden. An diesem Tag, ungefähr sieben Monate nach unserem ersten Treffen, brachten wir endlich den Mut auf, eine Beziehung einzugehen. Wenn es so etwas wie den Richtigen gab, dann war es Noah für mich. Wie ergänzten uns, und bei ihm konnte ich wirklich ich selbst sein, ohne mich auch nur Ansatzweise verstellen zu müssen. Und dafür war ich dankbar.

Am nächsten Morgen liefen wir zurück zum Auto. Der Himmel war wolkenverhangen, doch wenigstens blieb es trocken. Noah setzte mich zu Hause ab, um anschließend seine Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Wir wollten neue Lebensmittel und Klamotten in die Schutzhütte bringen, da wir ja selbst welche verbraucht hatten. Am nächsten Tag. Der Tag, an dem ich gewaltsam aus meiner Traumwelt heraus gerissen werden würde.

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Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt