Kapitel 9: Vertrauen

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Der Wecker riss mich aus dem Schlaf, doch trotzdem war ich augenblicklich hellwach. Heute war der erste Tag an der Uni! Schnell frühstückte ich, zog mich an, putzte Zähne und schminkte mich. Kurz später machte ich mich auf den Weg. Ich war total nervös, weil ich ja niemanden kannte.

Die Uni war unheimlich groß, doch schnell fand ich den Raum, in den ich mich einfinden sollte. Ich war so früh, dass noch niemand im Raum war und so setzte ich mich in die erste Reihe und legte meine Sachen zurecht. Keine fünf Minuten später hörte ich eine mir vage bekannte Stimme meinen Namen sagen. Ich drehte mich ruckartig um und entdeckte Oliver hinter mir.

"Hey, auf dem Kongress, das tut mir leid", fing Oliver an.
"Dir tut es leid? Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss", widersprach ich.
"Ich wollte dir nicht an die Wäsche oder so, du wirktest aber so durch den Wind, deshalb habe ich mir Sorgen gemacht", erklärte er.
Die ganze Misere fiel mir wieder ein. Wie ich ihn angeschrien hatte, obwohl er nur nett sein wollte. Ich schämte mich und lief bei der Erinnerung rot an.
"Ich weiß, es tut mir leid. Ich habe einfach überreagiert."
"Wie wäre es mit einem Neuanfang?", schlug er vor.
"Neuanfang klingt super."

Der Rest des Vormittages verlief unspektakulär. Die Klasse hatte sich gefüllt und Oliver und ich führten Smalltalk über belanglose Dinge, während der Dozent uns einige Formalitäten bezüglich des Studiums erklärte. Doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu, weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dass ich mich gleich mit Noah treffen würde. Ich verstand meine Aufregung ja selbst nicht so ganz, doch Lola hatte recht: Noah brachte mich einfach aus der Fassung.

Wie versprochen holte mich Noah um 14 Uhr von zu Hause ab. Da meine Eltern ja erst morgen nach Hause kommen würden, verlief das ganze ohne Probleme. Ich wusste nicht, was mich heute erwartete, doch ich war absolut neugierig. In seiner Lederjacke, der grauen Jeans und den nach hinten gebundenen Haaren gab er ein ästhetisches Bild ab, so dass ich nah dran war, die Fassung zu verlieren. Der Lippenpiercing machte ihn noch interessanter. Am Abend im Restaurant damals war mir seine Schönheit, sowie seine lässige und gleichermaßen nette Art gar nicht richtig aufgefallen. Jener Abend hatte nur dazu gedient, meine Eltern zu provozieren. Doch mit einem Schlag wurden wir seine ganzen positiven Eigenschaften, die ich bereits kennenlernen durfte, erneut bewusst.

"Alles okay?", fragte er mit gerunzelter Stirn. Erst da bemerkte ich, dass ich ihn, am Türrahmen lehnend, wahrscheinlich beinahe sabbernd von oben bis unten betrachtete, während er darauf wartete, dass ich ihn herein bat.
"Äh, ja, alles in Ordnung. Komm doch rein."
"Mir wäre es eigentlich lieber, wenn wir sofort los würden. Zwar bin ich kein Mensch, der gerne plant, doch manchmal ist es unerlässlich. Und heute habe ich großartiges mit dir vor." Im Kopf stellte ich mir diverse Dinge vor, die er damit gemeint haben könnte, und hoffte, dass die Tatsache, dass ich augenblicklich rot anlief, mich nicht verriet.

"Ich kann das nicht", erwiderte ich.
"Was kannst du nicht?"
"Einfach mit dir ins Auto steigen ohne zu wissen, wohin wir fahren und was wir machen."
"Und wieso kannst du das nicht?", fragte Noah sanft.
"Weil... ich dann keine Kontrolle habe. Ich muss sowas einfach planen", gestand ich, selbst überrascht von meiner Ehrlichkeit.
"Vertraust du mir?"
Diese Frage überraschte mich. Ich antwortete ohne zu Zögern: "Ja."
"Dann lass dich darauf ein. Bitte."

Keine zehn Minuten später saßen wir im Auto. Ich wusste nicht, wie er das schaffte, doch Noah hatte auf mich stets eine sehr überzeugende Wirkung.
Für September war das Wetter erstaunlich gut: Die Sonne schien und die Temperaturen betrugen mitte zwanzig Grad. Ich hatte nichts bei mir, nicht mal mein Handy - darauf hatte Noah bestanden. Das mulmige Gefühl in meiner Magengegend ignorierte ich, denn ich vertraute Noah wirklich. Zwar kannten wir uns noch nicht lange, doch selten hatte ich so gute und intensive Gespräche mit jemandem geführt wie mit Noah.

Auf der Fahrt erzählte Noah mir von seiner Vorliebe für Rugby. Früher hatte er selbst gespielt, doch  momentan machte er aufgrund einer Handgelenksverletzung eine Pause. Im Gegenzug erzählte ich ihm, dass ich früher Ballett getanzt hatte, doch da ich mich nun auf das Studium konzentrieren wollte, hatte ich aufgehört (eine Tatsache, die Noah gar nicht gefiel).

Nach gut vierzig Minuten erreichten wir unser Ziel. Noah parkte den kleinen grauen Wagen auf einem öffentlichen Parkplatz. Er schien öfter hier zu sein, denn er kannte sich aus. Nachdem er ausgestiegen war, lief er auch schon los. "Wo gehen wir hin?", wollte ich wissen und folgte Noah.
"Gleich wirst du es sehen."

Gerade als ich das Meeresrauschen, sowie den Meeresduft, der in der Luft hing, wahrnahm, bogen wir um eine Ecke, und schon erstreckte sich das indigoblaue Meer vor uns.
Es war ein atemberaubender und ungewohnter Anblick für mich, denn trotz der kurzen Strecke war ich ziemlich selten am Meer. Das lag vor allem an der Tatsache, dass sich meine Eltern seit dem Tod meines Zwillingsbruders in die Arbeit stürzten, und meine einzige Freundin Lola war, die , genau wie ich, noch zu jung war, um Auto zu fahren. Da auch die Busse nur sehr ungünstig fuhren, war das Meer immer noch ein Highlight für mich.

"Und, Estelle, weißt du jetzt, was ich mit dir vorhabe?", riss Noah mich aus meinen Gedanken. Stumm ging ich im Kopf die To-Do Liste durch. Da nicht allzuviele der von Noah geplanten Abenteuer etwas mit dem Meer zu tun hatte, dämmerte es mir ziemlich schnell.
"Doch nicht etwa surfen!", rief ich erschrocken aus.
"Und ob", grinste Noah.

"Aber .. ich kann das nicht. Ich habe das noch nie gemacht. Außerdem habe ich keinen Bikini dabei. Ist es nicht auch gefährlich?" Panik keimte in mir auf. Auch wenn ich wusste, dass surfen auf dem Plan stand, hätte ich doch gerne Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten (und gegebenenfalls die Risiken zu googeln). Jetzt, wo die Aktion so unmittelbar bevorstand, bekam ich es tatsächlich mit der Angst zu tun.
"Estelle, ich bin bei dir. Ich habe selbst vor einigen Jahren als Surflehrer gearbeitet, also habe ich damit Erfahrung. Außerdem ist der Wellengang heute ziemlich ruhig, das sind ideale Bedingungen für eine Anfängerin."
"Aber..", setzte ich erneut an, doch Noah hinderte mich am weiterreden, indem er seinen Zeigefinger auf meine Lippen legte.
"Du hast gesagt, dass du mir vertraust. Jetzt hast du die Chance, es zu beweisen", flüsterte er.
Und diese Chance würde ich nutzen.

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Zwar ist nicht so viel in dem Kapitel passiert, doch ich hoffe ihr hattet die Möglichkeit, Noah und Estelle besser kennen zu lernen. Hinterlasst mir doch gerne eure Meinung zu dem Kapitel in den Kommentaren! :)

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt