Kapitel 2: Peinliche Angelegenheiten

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Einige Stunden später, den Rest des Nachmittags hatte ich mit lernen verbracht, betrachtete ich mich im Spiegel. Ich trug mein rotes Kleid, das so ausgeschnitten war, dass mein üppiges Dekolleté gut zur Geltung kam, aber trotzdem nicht zu sexy wirkte. Dazu meine roten, passenden Stilettos mit Absatz und ein dezentes Make Up. Meine Haare hatte ich zu Locken gedreht. Ich legte mir meine beiden schwarzen, breiten Armbänder um, und mein Blick streifte flüchtig die verblassten Narben auf meinen Handgelenken. Sie stammten aus einer Zeit, an die ich lieber nicht zurück denken wollte, und so hob ich den Blick und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah absolut ansehnlich aus, wohl fühlte ich mich aber trotzdem nicht.

Es klopfte an die Tür, und ich setzte ein Lächeln auf. "Herein?" Mom, die in ihrem blauen, bodenlangen Kleid und dem strengen Zopf aussah, als sei sie einer Zeitschrift entsprungen, betrat mein Zimmer und schlenderte auf mein Himmelbett zu. "Wow, du siehst super aus, Estelle", lobte sie, während sie sich auf mein Bett setzte. "Danke, du auch, Mom."
Sie klopfte neben sich auf mein Bett und bat mich, mich zu ihr zu setzten, so als ob ich in ihr Zimmer geplatzt wäre und nicht sie in meins. Trotzdem setzte ich mich. "Wir wollen nur das Beste für dich, Estelle. Das weißt du doch, oder?"
"Natürlich", antwortete ich, stand auf, straffte die Schultern und setzte ein Lächeln auf, das so künstlich war, dass mir die Wangen wehtaten.
"Auf zum Kongress, wir wollen schließlich nicht zu spät kommen."

Dad parkte unseren Lamborghini hinter einem eindrucksvollen Restaurant, das sich im Herzen Marseilles befand. Er öffnete erst Mom, und dann mir die Tür und legte mir einen Arm um die Schulter.
"Sei einfach freundlich und mach deine Mutter glücklich. In spätestens zwei Stunden hast du es geschafft." Er lächelte mich aufmunternd an und ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Alles okay", flüsterte ich.

Das Restaurant mit den weißen Wänden war mit kunstvollen Bildern und leuchtenden Kerzen geschmückt. Allein der Speiseraum war größer als Lolas Haus. Mom steuerte zielstrebig auf einen Tisch in der Nähe der Tür zu. Sie schüttelte hier und da verschiedene Hände und verteilte an die Frauen Luftküsse. Ich und Dad folgten ihr und lächelten alle freundlich an.

"Estelle, Darling, ich möchte dir jemanden vorstellen", hörte ich die Stimme meiner Mutter. "Estelle, das sind Adam Tyso und sein Sohn Oliver. Er studiert auch ab Juni an der 'Universität Marseille', ist das nicht großartig?" Moms Stimme schoss am Satzende eine Oktave nach oben,  was sie schon fast hysterisch klingen ließ. Dass sie in Oliver schon ihren zukünftigen Schwiegersohn sah, war kaum zu übersehen. Mit meinem falschen Lächeln, das ich schon erstaunlich lange hielt, nickte ich den beiden höflich zu.
"Hier sind noch drei freie Plätze, setzt euch doch zu uns.", bot Mr. Tyso an. "Sehr gerne", antwortete Mom, ohne auch nur daran zu denken, mich oder meinen Dad zu fragen.

Ich nahm auf dem Stuhl direkt neben Oliver Platz, was mir die Gelegenheit bot, ihn genauer zu betrachten. Er war ein wirklich hübscher junger Mann, den ich auf die 20 Jahre schätzte. Sein blondes Haar hatte er schick zurückgegelt, und er trug einen schwarzen Anzug mit einer blauen Fliege, die haargenau zu seinen Augen passte.
"Hörst du mir nicht zu?", riss mich Oliver aus meiner eingehenden Analyse. "Oh, Entschuldigung." Ich merkte, dass ich rot anlief. Er lachte. "Kein Problem", sagte er und eine Reihe weißer, glänzender, gerader Zähne kam zum Vorschein.
"Du studierst also jetzt auch Jura?", wollte er wissen.
"Ja, im Sommer geht's los."
"Cool, vielleicht haben wir ja ein paar Kurse gemeinsam",sagte er und lächelte mich an. Mom warf mir einen verschwörerischen  Blick zu. "Kann gut sein", antwortete ich und schaute überall hin, nur nicht in seine Augen. Er war ein wirklich netter Junge, aber leider musste ich Mom enttäuschen, er war überhaupt nicht mein Typ. Sofern ich das beurteilen konnte, ich hatte ihn ja gerade erst kennengelernt!
"Hey, was ich noch fragen wollte..", setzte Oliver an. Zum Glück wurde er von einem Kellner unterbrochen, der an unseren Tisch kam, um unsere Bestellung aufzunehmen. Es war ein junger Mann, den ich auf Anfang Zwanzig schätzte. Seine blonden Haare hatte er zu einem zerzausten Dutt gebunden, ein Piercing zierte seine Lippe und ein Tattoo verlief quer über seinen Arm. Sein ganzes Aussehen passte überhaupt nicht in dieses noble Restaurant, was auch meiner Mutter aufzufallen schien, denn ihr Gesichtsausdruck reflektierte eine Mischung aus Überraschung und Abscheu. Wenn sie so schaute, machte sie ihre ganze Schönheit zunichte.
"Was darf ich euch bringen?", fragte er höflich und blickte lächelnd mit seinen blauen Augen in die Runde. Bevor ich die Chance bekam, meine Bestellung aufzugeben, platzte meine Mutter heraus:
"Erstens wünsche ich, gesiezt zu werden und zweitens können Sie uns gar nicht bringen. Ich wünsche, mit dem Chef zu sprechen."
Überraschung huschte über das Gesicht des jungen Mannes, doch er hatte sich schnell wieder gefangen.
"Mom", zischte ich, peinlich berührt von diesem Zwischenfall.
"Natürlich, einen kleinen Moment bitte", antwortete der Kellner, immernoch höflich, aber sichtlich irritiert, und verschwand in einem Hinterraum.
"Mom, was sollte das denn bitte?", wollte ich wissen.
"Hast du ihn dir mal angeschaut? In so einem Restaurant erwarte ich besten Service! "
"Aber er war doch höflich, was ist denn dein Problem?"
"Er taugt genau so wenig wie deine Freundin Lola."
"Monica, das reicht", schaltete Dad sich endlich ein. Oliver und seine Eltern verfolgten unseren Disput stumm und peinlich berührt. Doch da kam schon der Chef um die Ecke, Mr. Crowly, den meine Mutter kannte. "Guten Abend Mrs. Mathieu, was kann ich für Sie tun? Sie wollten mich sprechen?" "Guten Abend, Mr. Crowly, ich möchte mich beschweren über einen ihrer Kellner. Sein Verhalten, sowie sein Erscheinungbild..." Dass er sich überhaupt nicht falsch verhalten hat, wurde nicht erwähnt.
"Ah, sie müssen meinen Sohn Noah meinen! Er hat sich also falsch verhalten?" Mom fielen buchstäblich die Augen aus dem Kopf. "Habe ich da gerade richtig gehört? Ihr Sohn?" Ihre Stimme ging schon wieder eine Oktave nach oben. "Ganz genau. Also?"
"Es handelt sich um ein Missverständnis. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.", versuchte mein Vater die Situation zu retten, während meine Mutter nervös an ihrer  Serviette zupfte. Mr. Crowly, den ich immer als liebenswert empfunden hatte, schaute uns bitterböse an. Mit Recht, wie ich fand. Wie konnte meine Mutter nur so dermaßen unhöflich sein und die gesamte Familie blamieren? Mir wurde das ganze zu viel, also murmelte ich eine Entschuldigung und verschwand auf Toilette.

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt