Kapitel 29: Verantwortung übernehmen

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Im ersten Moment wurde Noahs Gesicht aschfahl, doch schließlich fing er an zu lachen. Es klang bitter und die Luft im Raum schien schlagartig kälter zu werden.
"Du lügst", knurrte er.
"Nein, Noah. Es ist die Wahrheit", behauptete Susan.
Er machte einen Schritt nach vorne, blitzschnell. Ich zuckte zusammen, damit hatte ich nicht gerechnet. Noah packte seine Mutter an beiden Handgelenken. "Du weißt doch gar nicht, was du da redest", brüllte er. "Die Drogen haben dein Gehirn vernebelt!"
Seine Mutter schaute Noah mit großen Augen an, ängstlich. "Lass mich los", flüsterte sie kaum hörbar. "Du tust mir weh."
Noah löste seine Hände von ihren Handgelenken, und zurück blieben rote Stellen.
"Geh zurück in mein Zimmer, bevor ich mich vergesse", sagte er drohend, und Susan blickte Noah einen Moment an, sie sah unsicher aus, wie ein kleines Kind. Dann nickte sie stumm, drehte sich um und rettete sich in Noahs Zimmer.
Augenblicke später traf Noahs Faust die Wand. Erneut zuckte ich erschrocken zusammen. Ich stand da, völlig verunsichert. Ich hätte das alles nicht mitbekommen dürfen. Ich drang ungefragt in Noahs Privatsphäre ein. Die  Tapete bröckelte langsam von der Wand ab, und Noah rieb sich seine Hand. Ich hatte ihn noch nie so wütend erlebt.
Sein Blick fiel auf mich. Erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass ich auch noch da war.
"Geh nach Hause, Estelle", flüsterte er.
Ich nickte. "Sehen wir uns wieder?", fragte ich mit leiser Stimme.
Noah schaute mich erstaunt an. "Möchtest du denn? Nach allem, was gerade passiert ist?"
Ich traute meiner Stimme nicht, und so nickte ich erneut.
"Dann werden wir uns wiedersehen. Aber gib mir ein bisschen Zeit, alles zu regeln, okay?"
"Ja", hauchte ich, und er trat einen Schritt auf mich zu, streckte die Hand aus und strich mir wie selbstverständlich über die Schläfe. "Geh jetzt."
Und dann ging ich.

Die nächsten Tage hörte ich nichts Neues von Noah, doch ich wusste, dass er Zeit brauchte, um alles zu klären. Und diese Zeit ließ ich ihm, auch wenn ich gerne für ihn da gewesen wäre.

Über Ostern fuhr ich meine Schwester Josie besuchen. Ostersonntag setzen die Wehen ein und in der Nacht von Sonntag auf Montag brachte sie einen gesunden Jungen, Pierre, zur Welt. Bei seinem Anblick musste ich unwillkürlich an die kleine Emely denken. Wie es Noahs Halbschwester wohl gerade ging?

*

~ Noahs Perspektive ~

Nachdem meine Mutter zurück in mein Zimmer und Estelle nach Hause gegangen war, machte ich mich sofort auf den Weg zu meinem Vater Eric. Ich musste unbedingt herausfinden, ob Susan die Wahrheit gesagt hatte und er der Vater des Kindes war. Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen, doch es ließ mir keine Ruhe.

Ich klingelte an seiner Wohnungstür, in der Hoffnung, dass er zu Hause war. Nach wenigen Sekunden öffnete er und ich trat ohne Aufforderung in die Wohnung.
"Noah, was machst du denn hier?", fragte er, überrascht, mich zu sehen. Schließlich war er eben erst von meiner Geburtstagsfeier nach Hause gegangen.
"Ich muss mit dir reden", sagte ich und ging in die Küche seiner großen Wohnungen, er folgte mir. "Es geht um Susan", fügte ich ohne Umschweife hinzu. "Hattest du in letzter Zeit Kontakt zu ihr?"
Er zögerte. "Ich habe sie seit einigen Monaten nicht mehr gesehen", erklärte mein Vater.
"Wann hast du die denn das letzte Mal gesehen?", fragte ich, bemüht, ruhig zu bleiben.
"Ich weiß es nicht genau", entgegnete Eric. "Warum fragst du? Was ist denn los?"
"Susan ist eben bei mir zu Hause aufgetaucht. Mit einem kleinen Baby im Arm. Sie behauptet, dass du der Vater von dem kleinen Mädchen bist. Kannst du mir das irgendwie erklären?", fragte ich und war wirklich unheimlich gespannt auf seine Erklärung. Doch gleichermaßen fürchtete ich mich vor seinen nächsten Worten.

Eine ganze Weile sagte mein Vater nichts, und ich bemerkte, dass er leichenblass geworden war. Erneut keimte Wut in mir auf, eine Wut, die ich kaum bändigen konnte. Mir war klar, was sein Schweigen bedeutete.
"Also stimmt es?", schloss ich daraus. "Das Kind ist von dir?" Meine Stimme troff vor Verachtung.
"Noah.. ich..", fing er an und machte einen Schritt auf mich zu.
"Antworte mir!", schrie ich.
"Es .. es kann sein. Wir hatten mal etwas miteinander, vor gut einem Jahr.. aber ich konnte doch nicht ahnen, dass sie schwanger wird!"
"Du konntest es nicht ahnen? Natürlich konntest du es ahnen! Ihr hattet ungeschützten Sex!" Meine Stimme wurde zunehmend lauter.
"Noah, bitte.. ich.. ich will dieses Kind doch gar nicht!"
"Das hättest du dir vorher überlegen müssen, du Arschloch! Jetzt ist es zu spät!"
Ich trat einen Schritt nach vorne und rammte Eric meine Faust ins Gesicht, mit voller Wucht. Ich konnte mich in diesem Moment einfach nicht beherrschen. Wie konnte er es wagen, eine drogenabhängige Frau zu schwängern, die noch nicht einmal auf sich selbst, geschweige denn auf andere Personen aufpassen konnte? Die Frau, vor der er mich und meine Schwester gerettet hatte? Fast hätte ich gelacht, so absurd war die gesamte Situation. Und jetzt behauptete er noch, das Kind nicht zu wollen!
Blut quoll aus Erics Nase, und meine Fingerknöchel taten höllisch weh.
"Du wirst Verantwortung für das Kind übernehmen", sagte ich und ließ Eric alleine in der Wohnung zurück.

Am nächsten Tag fuhr ich Susan und das Baby, dem es zum Glück gut ging, zu Eric. Susan versuchte sich zu wehren, sie wollte Eric nicht sehen, doch die beiden mussten über die Situation und wie es mit Emely weitergehen sollte, reden. Letztendlich sah Eric es ein, dass er Verantwortung tragen musste, und ließ die beiden vorübergehend bei sich wohnen. Ich hoffte wirklich, dass die beiden alles geregelt bekamen, damit sie dem Kind eine Zukunft bieten konnten. Ich würde sie dabei zweifelsfrei unterstützen. Ich hatte gestern vielleicht ein wenig überreagiert, doch trotzdem fand ich, dass Eric den Schlag ins Gesicht von mir verdient hatte. Vielleicht kam daher ja seine Einsicht, Verantwortung übernehmen zu müssen.

Aber nun musste ich mich erstmal um jemand anderen kümmern: Um Estelle. Diesmal würde ich nicht wieder alles kaputt machen.

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt