Kapitel 34: Der Phönix

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Wir gingen noch eine Weile spazieren, immer tiefer in den Wald hinein. Schließlich kamen wir zu einem beliebten Wanderweg und folgten diesem. Es war ein ruhiger Tag, und wir begegneten lediglich einer Frau, welche mit ihrem Hund spazieren ging.
Zu spät bemerkten wir, dass sich der Himmel langsam verdunkelte und die Luft abkühlte.
"Sieht nach Regen aus", stellte ich fest und Noah entgegnete: "Shit, wir brauchen bestimmt anderthalb Stunden zurück zum Auto." Als hätten wir es heraufbeschworen, fielen in diesem Moment die ersten dicken Tropfen auf die Erde. "Was machen wir jetzt?", fragte ich leicht panisch.
"Ich habe eine Idee", entgegnete Noah. "Ein oder zwei Kilometer von hier ist eine Schutzhütte für Wanderer, falls man sich bei einem Unwetter im Wald verirrt. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht einigermaßen trocken dorthin."
Wir rannten, doch natürlich schafften wir es trotzdem nicht trocken. Bereits nach wenigen Minuten hatten sich die vereinzelten Tropfen in strömenden Regen verwandelt. Wir wurden klatschnass, und die am Körper klebenden Kleider beeinträchtigten unser Tempo erheblich. Nach gut fünf Minuten kam ich an meine Grenzen - Sport war nie mein Ding gewesen - und brauchte eine Pause. Noah griff nach meiner Hand und zog mich langsam weiter in Richtung der rettenden Hütte. Natürlich war ich genervt von dem Umwetter, doch so mit Noah durch den Regen zu laufen fühlte sich andererseits irgendwie .. gut an.

Nach zehn Minuten Laufen in gemäßigten Tempo kam die Hütte endlich in Sicht. Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung und war klein und modern. Ich rannte darauf zu und wollte mich hinein retten, doch Noah, dessen Hand noch immer in meiner lag, hielt mich auf. "Warte", flüsterte er sanft, aber bestimmt und zog mich behutsam am Arm. Ich drehte mich zu ihm und blickte in seine blauen Augen, die teilweise von seinen im Gesicht hängenden, nassen Haarsträhnen verdeckt waren.
Und da zog Noah mich ohne Vorwarnung an sich, unsere Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt. Ich spürte seinen warmen, frischen Atem auf meiner Haut, und Augenblicke später drückte er seine Lippen auf meine. Kurz überlegte ich, ob es eine gute Idee war, den Kuss zu erwidern, doch dann schaltete ich meine Gedanken ab und öffnete meine Lippen. Ich presste mich gegen ihn. Doch bevor wir den Kuss vertiefen konnten, zog Noah sich zurück. Als ich sah, dass er lächelte, anstatt sich wie beim letzten Mal zu distanzieren, war ich ungemein erleichtert. Er sagte leise: "Somit wäre ein weiterer Punkt der Liste abgehagt. Lass uns reingehen, es ist kalt."

Ich folgte ihm in die Hütte, welche nicht abgeschlossen war. Die ganze Zeit musste ich an den Kuss denken, unseren ersten richtigen Kuss. Streng genommen war es der dritte, doch der erste, der am Kongress, diente lediglich dazu, meine Eltern zu provozieren. Und den zweiten Kuss, der sich auf dem Weihnachtsball ereignet hatte, hatte Noah nicht erwidert. Insofern konnte man beide nicht zählen.
Die Holzhütte war klein, aber gemütlich. Eine Lampe spendete schwaches Licht. In einer Ecke stand ein altmodisches Sofa, davor ein kleiner, runder Tisch. In einem Regal standen abgepackte Croissants, Kekse und Wasserflaschen. Außerdem gab es einen Schrank, und als Noah in öffnete, fand er einen Stapel frische Kleidung, sowie Wolldecken. Ich war erstaunt und dankbar, dass neben Proviant sogar für frische Klamotten gesorgt worden war. Die Kleidung war weder schön, noch passend, doch da unsere Klamotten völlig durchnässt waren, nahmen wir sie gerne an. In den viel zu großen Klamotten kuschelten wir uns mit den Wolldecken aufs Sofa - ich fror noch immer - und aßen ein paar Croissants. Noah warf einen Blick durch das winzige Fenster.
"Sieht so aus, als müssten wir über Nacht bleiben", stellte er fest. Es dämmerte bereits und es sah nicht danach aus, dass Regen und Gewitter sich bald verziehen würden.
"Wenigstens haben wir einen Unterschlupf", erwiderte ich.
Ich lehnte mich an Noah und wir küssten uns eine ganze Weile. Es war schön. Endlich hörte Noah auf, sich gegen das, was auch immer zwischen uns war, zu wehren. Noahs Lippenpiercing störte nicht im geringsten, im Gegenteil, es war ein aufregendes Gefühl. Irgendwann glitt seine Hand unter mein Shirt und wanderte langsam nach oben. Ich zog Noah sein Shirt aus und nutzte die Gelegenheit, seinen makellosen Oberkörper zu betrachten. Seine Brust, sowie sein Bauch waren muskulös. Zusätzlich zu seinem Tattoo am Arm zierte ein weiteres seine Brust. Es war schwarz und zeigte einen in Flammen stehenden Phönix.
"Warum ein Phönix?", fragte ich leise und fuhr mit dem Finger sanft die Konturen des Vogels nach.
"Ich finde den Phönix einfach bewundernswert. Er verbrennt, um wieder neu zu entstehen. Das bedeutet für mich, dass etwas nicht gleich verloren ist, nur weil man es verloren glaubt. Der Phönix symbolisiert Hoffnung und Optimismus. Man sollte nicht zu schnell aufgeben, auch, wenn es einem am einfachsten erscheint."
Mir fiel keine Erwiderung ein, und so küsste ich Noah erneut und legte all meine Gefühle, Gedanken und Leidenschaft in den Kuss.

Noah half mir aus meinem Shirt und bedeckte meine Haut mit Küssen, doch als seine Hand zu meinem Hosenbund wanderte, flüsterte ich: "Hör auf. Bitte."
Unschöne Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten suchten mich heim. Ich dachte, sie endlich überwunden zu haben, doch offensichtlich hatte ich mich getäuscht.
Blitzschnell zog Noah seine Hand zurück. "Es tut mir leid.. ich hätte nicht.. es geht alles viel zu schnell", stammelte er.
"Darum geht es nicht", entgegnete ich. "Ich vertraue dir, und ich möchte dich spüren, doch.. es ist ein wenig schwierig", gestand ich. Ich nahm einen tiefen Atemzug und fuhr fort: "Ich denke, es ist an der Zeit, dir die Wahrheit zu sagen. Über mich und über meine Narben."

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Ich überlege, das Cover dieser Geschichte zu ändern, da es mir irgendwie nicht mehr gefällt. Doch es würde vermutlich nur verwirren, wenn ich es jetzt ändern würde, oder? Wie seht ihr das?

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt