Kapitel 49: Jeder darf mal träumen

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Noah war geheilt. Ich konnte an nichts anderes denken. Alles würde gut werden. Ich war so euphorisch, so glücklich. Wir hatten es geschafft. Nichts konnte uns mehr passieren, absolut gar nichts.
Ich hatte die wildesten Fantasien und Vorstellungen von einer Zukunft, einer Zukunft gemeinsam mit Noah. Wir würden heiraten, Kinder bekommen und alt werden. Wir würden viel zusammen unternehmen, vielleicht eine Weltreise machen, den Grand Canyon besteigen, das Colosseum in Rom besichtigen, im Great Barrier Reef tauchen. Wir würden so viel gemeinsam erleben! Ich meine, was stand uns noch im Weg? Wir hatten gegen unseren schlimmsten Feind, den Krebs, gekämpft und gesiegt, wir konnten alles schaffen. Nichts konnte uns mehr passieren.
Im Nachhinein denke ich, dass solche  Vorstellungen so unmittelbar nach der guten Neuigkeit nicht ungewöhnlich waren. Uns standen viele neue Möglichkeiten offen, und automatisch schmiedete ich Pläne, alle zu nutzen. Natürlich kam die Realität anders, als ich es mir hier ausmalte, natürlich war nicht alles perfekt, das Leben stellte einem immer wieder neue Bausteine in den Weg, die es zu bewältigen galt. Doch in dem Moment war ich einfach nur glücklich und fühlte mich unbesiegbar.

Als Noah aus dem Krankenhaus entlassen wurde, beschloss er, eine Party zu feiern. Ich war sehr überrascht, hätte Noah gar nicht so eingeschätzt, dass er sich von anderen Menschen feiern ließ, erst recht nicht, dass er den besiegten Krebs feierte. Doch genau das tat er. Vielleicht war es die Euphorie. Gute Neuigkeiten lösen Glückshormone aus, heißt es, und verleiten einen so zu ungeahnten Taten. Vielleicht feierte er deshalb die Party. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Möglicherweise hatte ich Noah zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange und gut genug gekannt, um sagen zu können, was in ihm vorging.
Als Noah seine Wohnung zum ersten Mal seit dem Überlebenskampf betrat, sah ich eine kleine Regung in seinem Gesicht. Es sah aus wie Schmerz oder auch Bedauern, ich konnte es nicht ganz einordnen, doch als ich ihn fragte, ob alles okay sei, nickte er. Ich bohrte nicht nach. Er braucht sicher nur etwas Zeit, um sich an das Ganze zu gewöhnen, redete ich mir ein.

Noah hatte nicht viele Gäste eingeladen. Nur die engsten Freunde und die Familie. Eric kam mit Susan und Emely, natürlich war auch Lilly da. Lisa hatte er ebenfalls eingeladen, und Noahs Freund Bryan aus Paris kam auch vorbei.
Wir hatten die Wohnung schön hergerichtet. Lilly hatte einen Kuchen gebacken, Bryan brachte eine Musik Anlage mitgebracht und ich hatte für feierliche Dekoration gesorgt. Es war schön, Noahs Angehörige endlich wieder Lächeln zu sehen. Seit Wochen spiegelten sich auf allen Gesichtern Besorgnis und Erschöpfung wieder, ein Zeichen, dass Noah ihnen wirklich wichtig war. All das war am Tag der Party wie weggeblasen. Endlich waren wir wieder unbeschwert.

Es tat wirklich gut, gemeinsam mit den Anderen am Tisch in Noahs und Lilys kleiner Wohnung zu sitzen, Kuchen zu essen und über alltägliche Themen zu sprechen. Nicht nur über Krankenhäuser und Krebserkrankungen. Auch wenn die überwundene Erkrankung Anlass zur Party gewesen war, rückte das Thema ertaumlich schnell  in den Hintergrund. Ich war froh darüber. Auch Noah entspannte sich mit der Zeit sichtlich.
Ich unterhielt mich mit Bryan, der erzählte, dass er den Vergewaltigern seiner Schwester noch immer auf der Spur war. Wenn er sie schon nicht hinter Gitter bringen konnte, wollte er ihnen zumindest persönlich das Leben zur Hölle machen. Auch wenn ich seine Taten nicht befürwortete - immerhin machte er sich selbst stafbar und setzte sich ungemeiner Gefahr aus - verstand ich, warum er das alles tat. Er hatte einen geliebten Menschen durch die Taten anderer verloren. Dass er Rache wollte, konnte ich gut nachvollziehen.
"Pass auf, dass du dich nicht selbst in Schwierigkeiten bringst", riet ich Noahs bestem Freund, der ansonsten ein wirklich guter Mensch war - soweit man gut und böse differenzieren konnte. Jedenfalls mochte ich ihn. 

Später sprach ich mit Lisa. Auf ihrem Teller befand sich ein kleines Stück Kuchen, welches sie offensichtlich nicht angerührt hatte. Sie folgte meinem Blick. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie wieder zu mir, machte sich auf eine Frage gefasst, doch ich stellte keine, sondern ließ das ganze unkommentiert. Es ging mich schließlich auch nichts an. Schließlich brach Lisa das Schweigen. "Du hast ihm Kraft gegeben, den ganzen Mist durchzustehen. Ich weiß nicht, ob er es ohne dich geschafft hätte."
"Hätte er", widersprach ich. "Er ist ein Kämpfer. Auch ohne mich."
"Vielleicht ist er das", erwiderte sie. "Trotzdem hast du ihn geheilt, irgendwie. Und damit meine ich nicht den Krebs. Ich kenne Noah schon lange.."
"Ich weiß", unterbrach ich sie. Lisa verdrehte genervt die Augen.
"Leg deine Eifersucht endlich ab, Estelle. Noah hat nur Gefühle für dich. Er liebt dich. Und das ist gut so. Worauf ich hinaus wollte, ist: Du gibst Noah Lebensfreude. Du lässt ihn strahlen, ganz, ohne dir darüber bewusst zu sein. Noah war nicht immer ein solch lebensfroher und glücklicher Mensch, Estelle. Bevor du ihn kanntest, war er .. anders. Ich weiß jedenfalls nicht, ob sein Selbsterhaltungstrieb stark genug gewesen wäre, um gegen die Krankheit anzukämpfen. Aber er hat es getan. Dank dir. Und für dich. Ich möchte, dass du dir darüber im klaren bist, Estelle. Eine solche Verbindung, wie ihr beide sie habt, das ist wirklich etwas Besonderes. Und wertvolles. Heutzutage wird das Wort Liebe so leichtfertig genutzt, dass es an Bedeutung verliert. Aber ihr beiden, ihr symbolisiert wirkliche Liebe. Das ist nicht zu übersehen. Setz diese Liebe niemals aufs Spiel, Estelle. Sie ist wertvoll und es gilt, sie zu schützen." Sie warf mir einen Blick zu, den andere wohl als vielsagend beschreiben würden, doch ich konnte ihn nicht recht interpretieren. Lisas Monolog hatte mich sichtlich irritiert und ebenso verunsichert. Nichtsdestotrotz steckte Wahrheit in den Worten, und ich nahm mir sie zu Herzen. Sie beschäftigen mich bis heute.
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, und so brach Lisa erneut die Stille und fragte: "Möchtest du meinen Kuchen?"
Ich schüttelte den Kopf, und sie schmunzelte, schob den Kuchenteller von sich weg, stand auf und ging zur Toilette. Die ganze Zeit lag dieses leichte Lächeln auf Lisas Lippen, das ich nicht deuten konnte und welches mich zugegebenermaßen ziemlich verunsicherte. Als ich ihr hinterherschaute, wie sie ihren viel zu schmalen Körper in Richtung des Badezimmers bewegte, wurde mir überdeutlich bewusst, dass Noah und ich nicht die einzigen waren, die Probleme hatten. Manch einer wusste sie nur gut vor der Öffentlichkeit zu verbergen. 

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Yay, ein neues Kapitel. Sorry dass ich so lange brauche zum updaten

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt