Kapitel 10: Glaub an dich

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Immer noch skeptisch, aber mittlerweile auch neugierig folgte ich Noah über die Promenade. Ohne uns zu unterhalten liefen wir ein Stück, doch es war kein peinliches Schweigen, im Gegenteil, es war angenehm.

Nach gut zehn Minuten führte er mich zu einem kleinen Strandladen mit der Aufschrift "Kai's Surfshop". Noah öffnete die Ladentür und ließ mir den Vortritt, eine kleine Geste, die mich zum Lächeln brachte. Der Laden war tatsächlich winzig, aber modern. Es wurde eine Auswahl von verschiedenen Surfbrettern und diverser Surfausrüstung angeboten. Hinter der Kasse stand ein gutaussehender junger Mann, den ich auf Noahs Alter schätzte. Er hatte dunkle Haare und dunkle Augen. Als er uns erblickte, kam er freudestrahlend auf uns zu. "Noah, Alter, alles klar?", begrüßte er, und wandte sich dann, ohne eine Antwort abzuwarten, an mich. "Und du bist dann wohl Estelle?" Einen kurzen Moment war ich misstrauisch, doch dann erklärte er: "Noah hat gestern angekündigt, dass ihr beiden heute vorbeikommt, daher kenne ich deinen Namen. Ich bin Kai."
"Freut mich, dich kennenzulernen, Kai", sagte ich, und meinte es ernst, denn seine aufgeschlossene Art machte Kai direkt sympathisch.

Noah und Kai kannten sich, da Noah regelmäßig zum Surfen vorbeikam, und so hatten sich die beiden angefreundet und unternahmen ab und an etwas zusammen. Noah hatte ihm gestern angekündigt, dass er mir das surfen beibringen wollte, und deshalb stellte Kai uns kostenlos Surfbretter und einen Surfanzug zur Verfügung. Gerne hätte ich ihm ein bisschen was dafür gezahlt, doch da ich nichts mit hatte, noch nicht mal Geld, musste ich mich wohl damit abfinden.

In einer kleinen Strandkabine zog ich mir den eng ansitzenden Surfanzug an. Als ich die Kabine verließ und zurück zu Noah trat, der inzwischen ebenfalls in seinem Anzug steckte, musterte er mich einen Moment, bevor er mir in die Augen blickte und murmelte: "Los geht's."

Noah führte mich zu einer kleinen Bucht mit Sandstrand. "Das ist eine meine Lieblingsecken", erklärte er. "Das Schöne ist, dass hier fast niemand hinkommt. Die erfahrenen Surfer begeben sich immer an die Hauptbucht." Noah hatte recht; als ich mich umblickte, sah ich weit und breit niemanden.

Bevor wir es mit den Wellen aufnahmen, machten wir erst ein paar Trockenübungen. Ich muss gestehen, dass ich froh darüber war, denn so konnte ich es noch etwas hinauszögern, mich in die gefährlich wirkenden Wellen zu stürzen.

Noah zeigte mir, wie ich mich auf mein Surfbrett legen sollte. Ich legte mich hin, und er beugte sich über mich und schob mich sanft an meiner Hüfte nach links. Seine Hände blieben einen Ticken zu lang an meiner Hüfte liegen, und mir jagten heiße Schauer über meinen Rücken. "So ist es richtig", flüsterte er dicht an meinem Ohr.

Anschließend wagten wir uns ins Meer. Wir mussten ein ganzes Stück mit unseren Surfbrettern hinaus paddeln, bevor wir loslegen konnten. Noah hatte recht, die Wellen waren nicht außerordentlich hoch. Trotzdem hatte ich eine Menge Respekt vor dem Ganzen. Ich muss gestehen, dass ich schon durch das paddeln ziemlich aus der Puste kam. Doch bald waren wir weit genug im Meer. Es war kalt, aber erfrischend.

Ich wartete auf eine gute Welle, auch wenn ich nicht genau wusste, woran ich diese festmachen sollte. Doch dann sah ich sie und wusste instinktiv, dass es die passende Welle war.

Die Welle kam schneller als gedacht, und ich hatte mich noch nicht richtig festgehalten, als sie mich erwischte. Das Surfbrett wurde mir jäh entrissen, und die Welle schlug über meinem Kopf zusammen. Panisch schlug ich die Augen auf, die im Salzwasser augenblicklich zu brennen begannen. Doch schnell merkte ich, dass Panik mich nicht weiter brachte und ich bemühte mich, einen kühlen Kopf zu bewahren, so, wie ich es in meiner Therapie damals gelernt hatte. Ich strampelte in Richtung Oberfläche und durchbrach sie. Ich hatte es geschafft! Zwar hatte es mit dem Surfen noch nicht geklappt, doch ich hatte einen ebenso großen Erfolg erzielt: Meine Panik überwunden!

"Hey, alles in Ordnung?", fragte Noah besorgt. "Scheiße, sorry, dass ich nicht sofort da war."
"Alles bestens", beruhigte ich ihn und strahlte.
Er wirkte nicht überzeugt und bot an: "Wir können das ganze abbrechen. Vielleicht war es eine blöde Idee."
"Nein! Ich möchte es nochmal probieren. Bitte", wisperte ich.

Ich positionierte mich erneut auf dem Surfbrett, und Adrenalin durchflutete meinen Körper. Und da sah ich sie: Meine Welle.
"Die ist perfekt", flüsterte Noah rechts neben mir und bestätigte meine Entscheidung.
Ich klammerte mich an mein Surfbrett, und schoss mit der Welle nach vorne. Auch wenn ich mir sicher war, dass es alles andere als professionell aussah, war es ein atemberaubendes Gefühl. Ich hatte das Gefühl, zu schweben. Ich fühlte mich frei. In meiner Euphorie, nicht vom Brett gefallen zu sein (ja, das war ein Erfolg für mich), stieß ich einen kleinen Jubelschrei aus. Noah kam auf mich zugepaddelt.
"Hey, das war gut", rief er. "Wie fühlst du dich?"
"Es war fantastisch", antwortete ich lächelnd.

Wir blieben noch etwas im Wasser, und Noah zeigte mir, wie man richtig surfte. Er war unfassbar gut. Wie er so auf seinem Surfbrett stand, mit den blonden Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen, sah er total gut und heiß aus. Bei ihm sah das alles so einfach aus, doch das war es ganz und gar nicht. Ich probierte mich noch einige Male in Liegen, bis ich es irgendwann wagte, mich aufs Surfbrett zu knien, doch als die Welle mich erwischte, fiel ich sofort herunter. Noah und ich hatten eine Menge Spaß, und am späten Nachmittag brachten wir erschöpft, aber gut gelaunt, die Utensilien zurück zu Kai. Wir bedankten uns bei ihm und versprachen, bald wiederzukommen.

"Möchtest du noch mit zu mir kommen?", fragte Noah mich auf der Heimfahrt. "Wir können einen Film gucken oder so. Du kannst auch bei mir duschen. Aber wenn du lieber nach Hause möchtest, verstehe ich das natürlich auch."
"Ich würde sehr gerne noch mit zu dir kommen."

Den Rest der Fahrt verschlief ich, der Tag hatte mich eindeutig erschöpft. Als wir bei Noahs Wohnung ankamen, weckte er mich sanft. In der Wohnung blickte ich mich suchend um. Vielleicht war es feige, doch ich wollte es möglichst vermeiden, Noahs Schwester Lilly zu begegnen.
"Lilly ist nicht da, sie schläft heute bei ihrem Freund", erriet Noah meine Gedanken.
Er verschwand kurz in seinem Zimmer und kam mit einem Stapel Klamotten zurück.
"Hier, das ist von mir, das kannst du anziehen. Wenn du lieber was von Lilly möchtest, kann ich dir auch etwas von ihr holen."
Ich erinnerte mich in ihre mürrische Reaktion, als sie mich vor wenigen Tagen, nach dem peinlichen Ereignis im 'Wings', in ihren Klamotten sah.
"Nein nein, alles okay", erwiderte ich und drückte mir dankend Noahs Klamotten an die Brust.

Nach einer ausgiebigen heißen Dusche schlüpfte ich in eine weite, dunkelblaue Jogginghose und einen grauen Kaputzenpulli. Die Klamotten hingen wie Sack an mir herunter, doch sie waren weich und dufteten nach Noah.
Als ich aus dem Badezimmer kam, hatte dieser bereits Nudeln gekocht. Das schlechte Gewissen überwältigt für mich. "Das hätte ich doch auch machen können", antwortete ich, doch davon wollte er nichts hören.

Nachdem sich Noah eine schnelle Dusche genehmigt hatte, aßen wir auf dem roten Sofa sitzend die Nudeln, während wir die erste Folge von Supernatural, Noahs Lieblingsserie schauten. Ich war sofort begeistert von der Serie, doch die Müdigkeit übermannte mich. Bei der sechsten Folge schlief ich mit dem Kopf auf Noahs Schoß ein.

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Mit fast 1300 Wörtern mein längstes Kapitel. Findet ihr meine Kapitel zu lang / zu kurz oder ist die Länge gut? :)

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt